«Grosse» Geschichten von «kleinen» Leuten – Interview mit Kurt Aeschbacher
Seit den
Sechzigerjahren setzt sich Hanspeter Stalder mit dem Fernsehen
auseinander: anfänglich als Medienpädagoge in der
Lehrerweiterbildung und an Fachschulen für Sozialpädagogik,
dann in der Ausbildung an Schulen für Sozialarbeit und als
Mitarbeiter sozialer Institutionen im PR-Bereich. Auch im Publikumsrat
DRS betrachtet er Fernsehen und Radio aus dem Blickwinkel der Sozialen
Arbeit und stellt fest, dass die soziale Wirklichkeit im Fernsehen
nicht immer angemessen abgebildet wird. Kurt Aeschbacher macht eine
Ausnahme, die das Problem sichtbar macht.
Hanspeter
Stalder: Sie haben im Lauf der letzten zwanzig Jahre als Redaktor und
Moderator Hunderte von Fernsehsendungen realisiert, von denen ich
«Grell Pastell», «Casa nostra» und
«Menschen» erwähne. Was wollen Sie mit diesen
Sendungen eigentlich? Ich nehme sie zusammen, weil sie viel Gemeinsames
haben.
Kurt
Aeschbacher: Ich denke auch, dass sie sich ähnlich sind. Weil sie
alle mit mir zu tun haben. Ich bin jemand, der nur Fernsehen machen
kann, wenn das Konzept mit meiner Persönlichkeit
übereinstimmt. Ich bin vielleicht eine etwas antiquierte Figur in
der heutigen Medienwelt. Ich glaube nicht an die beliebige
Austauschbarkeit von TV-Gesichtern. «Meine» Sendungen haben
viel mit meiner Person zu tun. Logischerweise gleichen sie sich, weil
darin mein Temperament zum Tragen kommt.
HS: So wie
Picasso ja auch mit all seinen Porträts nur Variationen seines
immer gleichen und doch stets veränderten Selbstporträts
geschaffen hat.
KA: Auf
die Frage, was ich mit den Sendungen eigentlich wolle, gibt es zwei
Antworten: eine egoistische und eine professionelle. Ich möchte
– das ist die egoistische – einen tollen Job, eine Arbeit,
die mit mir zu tun hat, wo ich einbringen kann, was mich interessiert.
In gewissem Masse ist es meine «Education permanente». Ich
bilde mich mit meiner Arbeit weiter, indem ich in neue Gebiete
eintauche. Die professionelle Antwort ist, dass eine Sendung nur Erfolg
hat, wenn sie glaubwürdig ist. Auf meinem Gebiet heisst das, dass
sie Themen transportiert, die Menschen irgendwo im Innern berühren.
HS: Ihre
Sendungen haben alle ein Merkmal, das sie von andern unterscheidet: Sie
stellen immer wieder Menschen in die Mitte, die normalerweise in
Unterhaltungssendungen nicht vorkommen: alte, behinderte, ausgegrenzte
und dissoziale. Warum machen Sie das?
KA:
Dahinter ist mein Lebenskonzept. Klar ist es für die Promotion
auch wichtig. Ich behaupte aber, dass dabei nur sehr wenig Neues
herauskommt. Mich interessieren vielmehr Begegnungen mit Leuten, die
man nicht kennt, die einem ihre Geschichte erzählen. Was ich
spannend finde, sind all die überraschenden, lustigen, traurigen,
engagierten Geschichten und Erlebnisse von Menschen, von denen man
solche nicht erwartet.
Fernsehen
ist ein Massenmedium, das auch irgendwo einen Ansporn geben kann, mit
seinen eigenen Erlebnissen zu Rande zu kommen. Ein Schuhputzer in
Mexiko City hat vielleicht eine faszinierendere Geschichte zu
erzählen, weil er eine spezielle Philosophie hat und danach lebt.
Klar bewegt DiCaprio die Gemüter der Leute. Doch wirklich
berührt sind wir von den «grossen» Geschichten
«kleiner» Leute. Deshalb sind unbekannte
Persönlichkeiten für mich ein massgeblicher Bestandteil von
«Menschen» und «Casa nostra».
HS: Im
Allgemeinen lösen ihre Beiträge beim breiten Publikum und bei
den Professionellen der Sozialen Arbeit Sympathie aus. Doch
gelegentlich gibt es auch Ablehnung. Sie brächten diese
Porträts nur der Quoten wegen, heisst es. Was sagen Sie dazu?
KA: Das
nehme ich so zur Kenntnis. Dass Quoten zum Massenmedium Fernsehen
gehören, ist klar. Es kann keine Auszeichnung sein, eine Sendung
unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu produzieren. Doch mir sind
menschliche Begegnungen ein echtes Bedürfnis, beruflich wie
privat. Mich interessieren meine Gäste. Ich habe das Gefühl,
es entsteht trotz der ungewohnten Umgebung echte Nähe und
Vertrautheit. Darum funktioniert es und möchte ich es auch weiter
machen. Nicht die Quotenhoff-nung gibt den Ausschlag für einen
Beitrag, sondern schlicht das persönliche Interesse an einem
Inhalt oder einem Menschen. Aber logischerweise bin auch ich froh, wenn
die Wahl der Themen und deren Umsetzung vom Publikum einigermassen
akzeptiert wird. Ich kann die Quoten nicht ausser Acht lassen. Denn die
gleichen Leute, die mir vorwerfen, ich sei quotengeil, die machen mir,
sobald eine Sendung weniger Zuschauer hat, den Vorwurf, ich sei viel zu
abgehoben, ich soll an Stelle dieses «esoterischen Chabis»
mehr Mainstream machen.
HS: Wie
kommen Sie zu den Geschichten der «Menschen am Rand»? Wie
nähern Sie sich ihnen vor der Sendung? Worauf achten Sie
während der Sendung?
KA: Da
gibt es verschiedene Wege. Zum einen bin ich ein Sammler und
Jäger, lese viel Zeitungen und Zeitschriften, höre, was
erzählt wird, merke es mir oder schreibe es auf. Dann gehen wir in
der Redaktion gemeinsam den einzelnen Themen nach, sprechen mit
möglichen Gästen, suchen weiteres Material, entwickeln daraus
neue Ideen.
Bei
«Menschen» sind wir zu zweit. Der Kameramann, mit dem ich
eine enge Beziehung habe, arbeitet seit bald zwanzig Jahren mit mir.
Wir kennen uns in- und auswendig, wissen, was uns interessiert und
suchen so gemeinsam nach spannenden Porträts.
Bei
«Casa nostra» ist es die Redaktion, in der jeweils zwei
Leute mit mir für die Sendung arbeiten. Wir versuchen dann
gesprächsweise über «sieben Ecken» herum, in
assoziativen Interpretationen des Themas und in pickelharter
Recher-chierarbeit an die Ideen und Gäste heranzukommen. Wenn wir
die Leute gefunden habe, gibt es zwei Wege, wie ich mich für die
Sendung vorbereite.
Entweder
werde ich von meinen Kollegen «gebrieft», haben sie mit den
Gästen gesprochen und beschreiben mir ihre Eindrücke. Das ist
meistens so. Ich sehe die Gäste zum ersten Mal in der Sendung.
Dann kommt für mich der grosse Moment der Begegnung. Der ist
magisch. Entweder passiert in den ersten dreissig Sekunden das
«Ding», oder es passiert nicht. Dann muss man ziemlich hart
arbeiten, damit noch ein gutes Gespräch entsteht.
Wenn es
heikle Fragen gibt, bei denen etwas kippen könnte und man die
Reaktionsweise des Gegenüber nicht einschätzen kann, treffe
ich mich vor der Sendung zwei-, dreimal mit dem Gast. Wir reden
miteinander, vor allem höre ich zu. So spüre ich, wo die
heiklen Stellen sind. In achtzig von hundert Fällen funktioniert
es so, dass dann vor der Kamera alle Ängste wegfallen und die
Gäste nicht mehr merken, dass sie vor Publikum sitzen. Das hat
damit zu tun, dass wir eine bestimmte Nähe, auch physisch, haben
müssen. Wir müssen uns in einer besonderen Art
vis-à-vis sitzen. Das muss ich bei den Proben im Studio exakt
ausprobieren, im Griff haben, wie weit wir voneinander weg sitzen, wie
die Stühle platziert sind, wie das Licht gerichtet ist.
HS: Die
Sendung ist fertig. Sie haben die Kritiken gelesen. Das Unternehmen ist
abgeschlossen, der Flug zum nächsten bereits gebucht. Was
geschieht jetzt mit dem Menschen, den Sie in der Sendung hatten?
KA: Es ist
verschieden. Ich kann nicht mit allen weiterhin einen kontinuierlichen
Kontakt pflegen. Bei gewissen Leuten ist er aber über Jahre sehr
intensiv. Zum Beispiel mit einem Gast, der fast sein ganzes Leben im
Gefängnis verbrachte, diskutiere ich immer wieder in schwierigen
Situationen. Dazu gehört dann auch die Organisation einer
Geburtstagsfeier genau so wie ein Zustupf für die Ferien oder die
lang ersehnte Katze, die man aus einem Tierheim holt. So entstehen
immer wieder echte Begegnungen, die man nach der Sendung nicht einfach
abstellen kann.
Zu einer
Anzahl Menschen gibt es über Jahre hin Beziehungen, die sehr
persönlich sind. Man schreibt und telefoniert sich. Mit allen geht
das aber nicht, man würde sich überfordern, emotionell und
organisatorisch.
HS:
Können Sie für Ihre künftigen Sendungen Vorschläge
aus dem Publikum brauchen? Würden Ihnen Hinweise auch aus den
verschiedenen sozialen Szenen dienen?
KA:
Absolut. Wir suchen das auch. Wir sind oft etwas traurig, wenn man uns
bei gewissen Organisationen ablehnt, weil man das Gefühl hat, man
mache etwas kaputt, man sei nicht sorgfältig genug. Da haben wohl
gewisse Kollegen keine guten Erinnerungen hinterlassen. Trotzdem nehmen
wir immer wieder Kontakt mit sozialen Institutionen auf und versuchen
mit ihnen zusammen zu arbeiten. Dabei sagen wir ganz klar: Helft uns,
meldet uns, wo die Grenzen sind, wo es Schwierigkeiten geben kann, wo
es heikel wird. Es gibt Organisationen, vor allem Selbsthilfegruppen,
welche diese Publizität suchen. Doch gibt es auch Institutionen,
die mit dem Fernsehen nichts zu tun haben wollen. Ich denke, beide
würden profitieren: die sozialen Institutionen und das Fernsehen.
Wir wären froh, wenn wir vom Fernsehen kommen und eine Geschichte
suchen oder eine Auskunft erbitten, dass man uns nicht zum vornherein
die Türe weist, sondern hilft, gemeinsam einen Weg zu suchen:
nämlich respektvoll mit Menschen umzugehen.
Hanspeter Stalder, 2000
Foto: Marcel Meury (www.marcelmeury.ch)