Grund-Sätzliches zu den Massenmedien – in memoria Günter Anders

Am 17. Dezember 1992 ist Günter Anders gestorben. Er ist wohl der einzige Philosoph von Weltformat, der sich mit den Massenmedien auseinandergesetzt hat: vor allem in seinem Standartwerk «Die Antiquiertheit des Menschen» (C. H. Beck, München).

Unser Nachruf hat die Form eines Aufrufs: Er will einladen, die Überlegungen von Anders über die Massenmedien – und nicht nur darüber – zu lesen oder wieder zu lesen. «Meine damaligen Schilderungen waren keine Prognosen, sondern Diagnosen», heisst es im Vorwort zur 5. Auflage. Dass seine Diagnosen dennoch die Bedeutung von Prognosen haben, ist zu belegen, wenn man seine Analyse heute wiederholt.

Einladung zum Wiederlesen der «Antiquiertheit des Menschen»

Wohl allen von uns ist es schon ergangen, dass wir nach einem Kinobesuch, einem Fernseh- oder Radioabend ein ungutes Gefühl verspürten. Das «Gefühl» war aber mehr als bloss eine Emotion, es war ein dumpfes, dunkles ganzheitliches Erkennen. Dieses Dunkel etwas auszuleuchten, ist die Absicht dieses Textes. Führen wird uns dabei Günther Anders mit Aussagen aus seinem 1956 erstmals erschienen und 1979 unverändert wiederaufgelegten grundlegenden Werkes.

Eine Kindergeschichte

Den Essay «Die Welt als Phantom und Matrize – Philosophische Betrachtungen über Rundfunk und Fernsehen» beginnt er mit einer «Kindergeschichte»:

«Da es dem König aber wenig gefiel, dass sein Sohn, die kontrollierten Strassen verlassend, sich querfeldein herumtrieb, um sich selbst ein Urteil über die Welt zu bilden, schenkte er ihm Wagen und Pferd. 'Nun brauchst du nicht mehr zu Fuss zu gehen', waren seine Worte. 'Nun darfst du es nicht mehr', war deren Sinn. 'Nun kannst du es nicht mehr', deren Wirkung.»

In dieser einfachen Parabel, so scheint mir, ist Wesentliches über unser Verhältnis zu den Massenmedien und über die Wirkung der Medien auf die Gesellschaft gesagt. Folgen wir den Sätzen der Geschichte:

Sie handelt von einem Sohn, symbolisch verstanden, wohl von der Zukunft des Menschen, seinem Erwachsen-Werden, Erfahrungen-Sammeln, Welt-Aneignen: davon, diese Welt wissenschaftlich, ästhetisch und moralisch zu messen, zu werten und zu beurteilen. Zu diesem Zweck gibt der Vater, der ein König ist, dem Sohn Wagen und Pferd. Bis jetzt geschah die Welt-Erfahrung des Jungen «querfeldein herumtreibend». Das heisst, in jedem Augenblick neu entscheidend, selbstbestimmend, eigeninitiativ, spontan. Jetzt erhält er ein Werk-Zeug, ein Hilfs-Mittel, ein Medium. Nun geht alles schneller – vielleicht schneller, als es Menschen überhaupt gemäss ist. Quer durch das Feld schlendern ist jetzt kaum mehr möglich; es gibt nur noch ein zielgerichtetes Vorwärts. Die Schwerkraft der Pferdewagenfahrt verunmöglichst ein Herumtreiben. Die Erfahrung, zu der bisher wesentlich das «Querfeldein» und das «Herumtreiben» gehörte, wird verunmöglicht. Wer die Welt aber nichts erfahren kann, bleibt unerfahren.

Versuchen wir mit dieser Metapher in die heutige Medien-Welt zu schauen: «Nun brauchst du nicht mehr zu Fuss zu gehen», tönt wie ein Versprechen, ein Geschenk, für das wir dankbar sein sollen. Denn es wird uns etwas Anstrengendes und Mühseliges abgenommen. Wir können Energie sparen, wie das in der Sprache der utilitaristischen Welt heisst. Dass wir damit um eine Wesenseigenschaft des Mensch-Seins betrogen werden, wenn wir den «homo viator» (Gabriel Marcel) als Existenzform des Mensch-Seins betrachten, wird übersehen.

Brauchen, dürfen, können

Wir brauchen die Landschaften nicht mehr zu er-wandern, die Tiere nicht mehr zu er-fahren, den Menschen nicht mehr zu er-leben. Alles kommt zu uns. Wir müssen nicht in die Landschaft, zu den Tieren, zu den Menschen hinaus. Die Welt kommt zu uns: in Programme zugeschnitten und verpackt, für jede Tages- und Nachtzeit präpariert, auf Bildschirmgrösse verengt, in zwei Dimensionen gequetscht, auf die «fernsten» Sinne (Sehen und Hören) zusammengestaucht. Kostenfrei sei dies alles, sagt man uns, was nur stimmt, wenn wir die riesigen Gemeinkosten und den Verschleiss an Lebenszeit vergessen.

Die Fernbedienung zum Beispiel ist eine Technologie, die uns selbst innerhalb des Programmes ein Hin und Her von einer Wirklichkeit zur andern «erleichtert» und das Wechseln zum selbstzweckhaften «Spiel» degradiert.

Wir dürfen die Landschaften, die Tiere und die Menschen, die Welt nicht mehr sehen, hören, berühren, schmecken und kosten. Welt-Erfahrungen wirklich primär, direkt, original zu machen, braucht Zeit. «Perdre son temps» heisst es im «Petit Prince» von Antoine de Saint-Exupéry. Doch das heisst im Wortgebrauch der Medien Zeitverschwendung. Oft wird auch pseudo-ökologisch argumentiert. Natur und Umwelt müssen geschont werden. Dafür benützt man die Ersatz-Welten, ohne zu bedenken, dass es um die Qualität, nicht die Quantität der Kontakte geht.

Eine einzige wirkliche Begegnung, eine menschliche Begegnung, die mein Leben verändert hat – wiegt doch Tausende solcher Plastic-Begegnungen und Instant-Kommunikationen auf.

Wir können allmählich diese Welten nicht mehr erfahren, weil unsere körperlichen, geistigen und seelischen Mittel, unsere Sinne, dafür abgestumpft wurden. Ob der vielen Medien-Wirklichkeiten, der Bilder-Wirklichkeiten vergessen wir die eigentlichen Wirklichkeiten. Die Wirklichkeit mit den «Leerräumen», wo «nichts geschieht», jedoch alles «ist», werden ersetzt durch die Medien-Pseudo-Wirklichkeiten «ohne Leerräume». Wenn jede Pause herausgeschnitten, jedes Davor und Darnach, jeder Zwischenraum weggelassen wird, meinen wir allmählich, dass das Leben nur aus Höhepunkten besteht. Heinrich Böll hat dies bereits 1958 in «Doktor Murkes gesammeltes Schweigen» ironisch thematisiert.

Zusammenschnitte der Torszenen von Fussballspielen einer ganzen Woche, Montagen von Kopulationen aus drei parallel laufenden Sexgeschichten zu einer einzigen, der Verschnitte der «Zauberflöte» ohne die Sprechtexte und Zwischenspiele sind Beispiele dafür.

Günther Anders wurde immer wieder kritisiert, er übertreibe. Und er gibt dies auch zu: Er übertreibe genau so, wie ein Mikroskop übertreibt, das Krebszellen feststellt, oder ein Teleskop, das für das blosse Auge unsichtbare Sonnensysteme sichtbar macht. In diesem Sinne machen uns seine «Übertreibungen» vielleicht sehender für unser alltägliches Medien-Dunkel.