Kind und Fernsehen – ein Versuch

Die folgenden Überlegungen entstammen Gesprächen zum Thema «Kind und Fernsehen». Sie bieten keine abschliessenden Antworten, sondern wollen Eltern und andern Erziehern Denkanstösse vermitteln und Diskussionen anregen. Sie können sinngemäss auf Kino, Video oder Comics übertragen werden und gelten, angepasst, auch für Jugendliche.

1. Weder Dämonisierung noch Bagatellisierung

Zwei extreme Haltungen dem Fernsehen gegenüber sind unbedingt zu vermeiden. Zum einen die Dämonisierung, die im Fernsehen den Grund allen Übels unserer Gesellschaft sieht. Sie macht ohnmächtig. Zum andern die Bagatellisierung, die das Fernsehen als wirkungslos betrachtet. Sie macht leichtsinnig. Ohnmächtig und leichtsinnig aber sind wir am leichtesten manipulierbar.

2. Fernsehen wirkt! Aber wie?

Aus Erfahrungen und Untersuchungen ist bekannt, dass das Fernsehen wirkt. Wie, das wissen wir allerdings nicht genau. Die Gründe für Gesinnungswandel und Verhaltensänderungen sind vielfältig. Deshalb ist es schwierig, mit Sicherheit die Reaktionen des einzelnen auf bestimmte Sendungen vorauszusagen. Auf Fernsehgewalt etwa sind vier Antworten möglich: Zuschauer können sich an Aggression gewöhnen oder Angst bekommen, eigene Aggressionen abreagieren oder aggressives Verhalten erlernen.

3. Zwei Theorie-Ansätze

Die Wirkungsforschung kennt zwei Ansätze: erstens die Reiz-Reaktion-Theorie (Stimulus-Response). Sie besagt, dass das Fernsehen sehr grosse Macht auf die Empfänger ausüben kann. Die zweite, die Nutzungs-Theorie (Use and Gratification) meint, dass die Empfänger das Fernsehen frei nach ihrem Wollen und Können zu nutzen im Stande sind. Beide Ansätze haben etwas für sich. Sie wirken und beeinflussen sich auch gegenseitig.

4. Fernseherlebnis als «Seismograph»

Beobachtungen bei Kindern wie auch Selbstbeobachtungen beim eigenen Fernsehkonsum geben Auskunft über verborgene Wünsche und Sehnsüchte, Befürchtungen und Ängste. Wie das Ausschlagen des Zeigers eines Seismographen zeigt, wo es Erdbeben hat, so geben die Äusserungen der Kinder vor, nach und während der Sendung Auskunft über die «Detonation» des Mediums in seinem Fühlen und Denken.

5. Alle Sendungen haben Botschaften

Wir haben die Sendungen möglichst offen und kritisch wahrzunehmen: Inhalt, Form und Gehalt. Sehen und hören, fragen und hinterfragen heisst es. Es gilt, die sichtbaren und versteckten Botschaften zu erkennen: die Werte und Normen, Gebote und Verbote, Problemstellungen und -lösungen. Und dann ist zu fragen, wie die Kinder und wir dazu stehen. Auch bei TV-Sendungen gilt: «Man kann nicht nicht-kommunizieren» (Paul Watzlawick).

6. Das «medienpädagogische Dreieck»

Das «medienpädagogische Dreieck», das ich hier vorschlage, ist ein Denkmodell für die Haltung und das Verhalten der Erzieher. Diese sollen, wenn das Kind fernsieht, sowohl dem Kind mit seinen Reaktionen als auch dem Fernsehen mit seinen Botschaften zugewandt sein. Sie suchen zu den Reaktionen des Kindes die Ursachen beim Fernsehen oder beobachten die Äusserungen des Fernsehens und suchen die Wirkungen beim Kind zu erkennen.

7. Eine umfassende Frage der Erziehung

Gehe ich die Frage «Kind und Fernsehen» ernsthaft an, so weitet sie sich in drei Richtungen aus. Erstens bleibt sie nicht auf der Ebene der Kinder, sondern verschiebt sich auf jene der Erzieher. Zweitens erweist sich die Medienerziehung als Teil der Erziehung allgemein. Und drittens wird aus der Frage der Erziehung eine Frage der Selbsterziehung. Das sind die Gründen, warum es keine verbindlichen Rezepte gibt.

8. Kommunikationspädagogik als Prinzip

Medienerziehung kann als Teil der Informations- oder Konsumpädagogik, umfassender der Kommunikationspädagogik verstanden werden. Dies bedeutet, dass die mediale Kommunikation immer in Beziehung zur personalen zu setzen ist. Medienkunde vermittelt dabei Informationen über die Massenmedien. Medienerziehung als Kommunikationspädagogik ist Erziehungsprinzip.

9.Wirklichkeit und Medienwirklichkeit

Ein Ziel der Medienerziehung verlangt, zu unterscheiden zwischen Wirklichkeit und Medienwirklichkeit, zwischen primärer und sekundärer Wahrnehmung. Das heisst, die Medien-Autorität in Frage zu stellen, zu spüren, zu erkennen, wie Bedürfnisse nur in der realen Welt befriedigt, dass sie durch Medien lediglich pseudo-befriedigt werden.

10. Vom Monolog zum Dialog

Ein Grundproblem der Massenkommunikation ist die Tatsache, dass sie nur einseitig Informationen vermittelt und einwegige Kommunikation ermöglicht: Einer sendet, viele empfangen. Diese Einwegigkeit wird überwunden, indem der Monolog des Mediums in den Dialog zwischen Menschen hinübergeführt wird, das Gespräch zwischen den Eltern/Erziehern und dem Kind beginnt. Im Dialog sehen wir den Ur-sprung des menschlichen Lebens, von Kultur und Bildung.

11. Aktivierung statt Passivisierung

Fernsehen macht passiv, heisst es. Teils trifft dies wohl zu. Ein weiteres Ziel der Medienerziehung heisst deshalb: Weg von einer passiven zu einer aktiven Haltung den Medien gegenüber! Es soll möglich werden, dem Alter und der Entwicklungsstufe gemäss, aktiv fernzusehen. Dies kann gelernt werden. Für Kinder heisst es vielleicht, die Bastelanregungen oder Arbeitsaufträge einer Sendung aufzunehmen, für Jugendliche, die Impulse zu Aktionen in die Tat umzusetzen.

12. Persönliche Auseinandersetzung suchen

Es gibt viele Möglichkeiten, den «Fragen» des Fernsehens mit persönlichen «Antworten» zu begegnen. Das Gespräch ist die häufigste Form. Zeichnen eine andere. Im Rollenspiel kann das Gesehene und Gehörte nochmals anders verarbeitet werden. Mit zunehmendem Alter wird es möglich, den inter-personalen Dialog zu einem intra-personalen zu verinnerlichen. Dies sind Wege, von einem passiven Konsumieren zu einem aktiven Produzieren zu kommen. Wie die meisten andern Probleme löst man auch dieses am besten mit andern zusammen.

Weiterführende Literatur

  • Ben Bachmair: TV-Kids, Otto Maier, Ravensburg 1993, 127 Seiten Renato Biscioni: Fernsehkinder, Vom Umgang mit einem beherrschenden Medium, Orell Füssli, Zürich 1991, 80 Seiten
  • Ulrich Eicke, Wolfram Eicke: Medienkinder, Vom richtigen Umgang mit der Vielfalt, Knaur, München 1996, 261 Seiten
  • Jan-Uwe Rogge: Kinder können fernsehen, Vom sinnvollen Umgang mit dem Me-dium, rororo, Reinbek bei Hamburg 1990, 153 Seiten, mit Literaturverzeichnis.
  • Schule und Elternhaus (Hgr.): Kinder und Jugendliche im Medienmix, Ein Ratgeber für Eltern, S & E, Gerbergasse 26, 4001 Basel 1996, ca. 100 Seiten