Mediendidaktische Stolpersteine
Wenn wir in der Schule oder Erwachsenenbildung mit audiovisuellen Medien arbeiten, zeigen sich immer wieder die gleichen Probleme. Es kommt kein Gespräch zustande oder man spricht aneinander vorbei. Diskussionen enden im Streit oder Frustrationen bleiben zurück. Mit dem folgenden Text soll diese Situation – am Beispiel des Films – ausgeleuchtet und der erste Schritt zu deren Überwindung versucht werden. Nicht mit Tricks aus der didaktischen Zauberkiste, sondern mit grundsätzlichen Überlegungen.
Am liebsten hätte ich es, wenn dieser Text als Arbeitspapier für neue Gespräche, kritische Auseinandersetzungen und zur Formulierung persönlicher Ant-Worten dienen würde.
Die Behauptung «So ist es!»
Immer wieder tönt es so oder ähnlich: «Was ich sehe, wie ich sehe, so ist es!» Ob ausgesprochen oder nicht, eine solche Haltung zerstört die Voraussetzung für ein Gespräch. Sie macht es sinnlos. Wozu sollen wir miteinander reden, wenn nur eine einzige Wahrnehmung und Interpretation richtig ist?
Notwendig wird ein Gespräch aber erst, wenn es der gegenteiligen Haltung entspringt: Was ich sehe und höre, ist meine Sicht; welche Aussage ich heraus lese oder hinein projiziere, ist meine Deutung. Erst diese Haltung umfassender Subjektivität bildet ein solides Fundament für Gespräche. Denn die Wirklichkeit ist stets eine «erfundene Wirklichkeit» (Paul Watzlawick).
Tiefe jedoch erhält ein Filmgespräch erst, wenn es über das «Was» und «Wie» hinaus zum «Warum» vorstösst. Das heisst, wenn wir fragen, warum wir etwas so und nicht anders sehen, hören und verstehen. Wie wir einen Film deuten, was er uns bedeutet, sagt oft wenig über ihn, viel aber über uns aus.
Die Ausrede mit dem «andern Film»
Ankündigung, Ausschreibung, Titel oder Einleitung lösen bestimmte Vorstellungen, Erwartungen und Vorurteile aus. Damit gehen wir, ob wir es wissen oder wollen, an den Film heran, was unsere Offenheit beeinträchtigen kann. Wir sehen im Film das, was wir hineinlegen, nicht unbedingt das, was die Macherinnen oder Macher aussagen möchten.
Von diesem Standpunkt aus sehen, hören und interpretieren wir das Werk, unternehmen wir meist nicht viel anderes als den Versuch, unsere Vorurteile zu bestätigen. Aus dieser Haltung heraus argumentieren wir, wenn wir den eingeblendeten «andern», nicht den konkret vorliegenden Film wahrnehmen und interpretieren.
Nur mit grossem psychologischem und ästhetischem Einfühlungsvermögen gelingt uns aber eine Annäherung ans Werk. Diese Offenheit ist, neben der Subjektivität, das Zweite, was das Filmerlebnis und das Filmgespräch bereichert.
Der Hundertprozent-Fimmel
Bei Informationen geschieht es immer wieder, dass wir die allein richtige Antwort auf eine Frage suchen und dabei dem Hundertprozent-Fimmel (Frederic Vester) verfallen. Und dies, obwohl wir schon unzählige Male erfahren haben, dass es nur Teil-Antworten, nie Hundertprozent-Antworten gibt.
Bei Erfahrungen, wie sie Filme vermitteln, ist es nicht anders. Unsere Interpretationen sind nie die ganze, alles umfassende Antwort, sondern bloss sich gegenseitig beeinflussende, z.T. wiedesprüchliche Antworten-Konglomerate.
Wenn wir Filmen und Gesprächspartnern gegenüber offen sind und beide in ihrer Subjektivität ernst nehmen, akzeptieren wir, drittens, den Pluralismus, der uns hilft, die mediendidaktischen Stolpersteine zu überspringen. Niemand ist im Besitz der allein richtigen Antwort. Nur alle miteinander können in ihre Nähe vorstossen.
Das Filmkritiker-Spiel
Der Filmkritiker muss mit seinem Gefühl und seinen Massstäben, für fremde Leute die Filme beschreiben und beurteilen. Wenn wir seine Werte und Normen kennen, ist dies hilfreich. Wenn wir sie nicht kennen, gibt es uns gelegentlich die falsche Zuversicht «objektiver» Aussagen über den Film.
Für die Arbeit mit Medien in der Bildungsarbeit jedoch gibt dieser Zugang nur wenig her. Denn dadurch wird gerade das, was den tieferen Sinn des Gespräches ausmachen könnte, ausgeklammert.
Was hat mir gefallen? Was nicht? Aus welchen Gründen? Nicht der Film ist der Mittelpunkt des Gesprächs, sondern das Filmerlebnis: die persönliche Erfahrung, viertens, die Betroffenheit durch den Film.
Das Ich-Versteckspiel
Aus der
Gruppenarbeit und der Humanistischen Psychologie kennen wir das
Postulat der Ich-Botschaften. Da es sich beim Filmgespräch genau
so wie in der Gruppenarbeit und Therapie um Kommunikation handelt, gilt
auch hier die Forderung nach Ich-Botschaften.
Wir kommen bei einem Filmgespräch niemals in die Tiefe, wenn wir nicht von uns ausgehen und in der Ich-Form sprechen: Ich sehe es so, mir gefällt dies, missfällt jenes, ich bin darüber schockiert oder erfreut, deshalb beruhigt oder verunsichert usw.
Wenn Hans etwas über einen Film sagt, sagt Hans mehr über Hans als über den Film. So etwa könnte man den berühmten Satz von Sören Kierkegaard auf unsere Situation übertragen. Und etwas über Hans erfahren, ist doch letztlich wichtiger und befriedigender als bloss über einen Film.
Die falschen Verallgemeinerungen
Ein Film zeigt immer eine bestimmte Frau, einen bestimmten Mann. Er zeigt nicht den Mann oder die Frau. Diese Behauptung widerspricht nicht der Überzeugung, dass Kunst allgemeingültig sein kann. Doch dies bleibt der exzeptionelle Glücksfall, nicht die Regel. Solches meint wohl auch Paul Valéry, wenn er sagte, dass Kunst desto objektiver sei, je subjektiver sie daher komme.
Immer wieder haben wir die konkrete Person zu nehmen. «Die Wahrheit ist konkret», meint schon Bert Brecht. Der Hang zur Verallgemeinerung kommt aus dem Vorgehen der Wissenschaft. «Unique au monde» ist nicht nur die Rose in Antoine de Saint-Exupérys «Le petit prince», sondern jede Person und fast jeder Tatbestand dieser Welt.
Je einmaliger wir die Personen und Tatbestände nehmen, desto allgemeiner können sie im Idealfall werden. Doch die Umkehrung stimmt nicht: Je allgemeiner wir alles sehen, desto einmaliger oder konkreter wird es.
Das Wirklichkeiten-Verwechslungsspiel
Film ist stets eine andere Wirklichkeit als jene des «Kinostuhls, auf dem wir sitzen» (Alain Tanner), eine mediierte, künstlerische, gestaltete oder manipulierte. Und damit haben wir uns abzufinden.
Nehmen wir das Medium als die «wirkliche» Wirklichkeit, so befinden wir uns auf der Ebene der Wahrhaftigkeit. Kunst aber bewegt sich auf der Ebene der Wahrheit. Nicht äussere Wahrhaftigkeit, sondern innere Wahrheiten gilt es wahrzunehmen, für wahr zu nehmen – und zu deuten, nachdem wir sie zuvor im Gespräch erschaffen haben.
Neben der Subjektivität, der Offenheit, der Betroffenheit, den Ich-Botschaften, der Einmaligkeit und dem Pluralismus haben wir, siebtens, die Relativität der verschiedenen Wirklichkeiten ernst zu nehmen und nicht die Filminhalte im Verhältnis eins zu eins auf unser Leben zu übertragen. Dort ist die Medien-Wirklichkeit, hier unsere Lebens-Wirklichkeit. Der Transfer vom einen zum andern verlangt die Anstrengung der Interpretation.
Die Sucht nach Wahrheiten
Als verhängnisvoller, jedoch weit verbreiteter Irrtum beim Filmsehen und -besprechen erweist sich schliesslich der Glaube, Filme hätten Wahrheiten zu transportieren. An diesem Anspruch aber scheitern Filme und Filmgespräche immer.
Noch verhängnisvoller ist es, wenn man glaubt, der Film hätte gar die einzige Wahrheit zu vermitteln, obwohl wir doch aus Erfahrung wissen, dass Wahrheiten immer subjektiv sind: Es gibt nur meine, deine, seine oder ihre, nicht aber die absolute Wahrheit. Auch nicht im Film.
Weiter voran kommen wir, wenn wir, siebtens, versuchen, mit dem Film und den Mitmenschen, achtens, in den Dialog zu treten. «Die Welt als Erfahrung gehört dem Grundwort Ich - Es zu. Das Grundwort Ich - Du stiftet die Welt der Beziehung» (Martin Buber). Um ein Es, eine Sache, einen Film, zu erfassen, braucht es ein Du, einen Mitmenschen, einen Gesprächspartner. Auch im Filmgespräch. Nicht der Film vermittelt Wahrheiten, sondern wir erschaffen sie uns mit seiner Hilfe.