Von den Freuden und Leiden des Lesens

Persönliches vom Internationalen Symposium «Zur Kulturtechnik Lesen in der Mediengesellschaft»

Rote Köpfe gab es, wenn sich im 18. Jahrhundert die Kinder nach der Schule zum Lesen zu Hause in eine Ecke verkrochen. Unmut und Misstrauen löste dies bei den übrigen, des Lesens unkundigen Familienmitgliedern aus. Durch das Lesen entzögen sich die Heranwachsenden der traditionell mündlichen Kommunikation, dachte man. – 150 Jahre später schrieb der Computerwissenschaftler Joseph Weizenbaum in seinem Buch «Kurs auf den Eisberg» von den jungen Computerfreaks im Silicon Valley, sie sähen erschöpft und übernächtigt aus, hätten Augenringe und Dreitagesbärte, seien anämische, triste, kränkelnde Gestalten, die statt mit Menschen, mit Maschinen verkehrten.

Damals wie heute stimmten und stimmen Pädagogen das gleiche Klagelied über den Verlust der sprachlichen Kommunikation durch das Buch und den Computer an. Diese Reaktion der Gesellschaft auf neue Medien ist verständlich. Jedes neue Medium macht Angst, provoziert Veränderung – trifft uns im Innersten.

Lesekunst

«Lesen ist alt, aber es ist immer eine Kunst gewesen, ein Können, das sich jeder einzelne Kopf, zumeist mit Hilfestellung von andern Personen mühsam hat erweitern müssen. Menschen, die sich mit dem Lesen beschäftigten, fielen einst den anderen so ins Auge, wie wir heute etwa einen Stelzenläufer betrachten, der quer durch die Stadt stakt und den Lauf der Dinge, sprich den fliessenden Verkehr behindert» Soweit Rudolf Schenda, der damit die Leiden und (erhofften) Freuden des Lesens anschaulich beschreibt.

Das Lesen-Lernen stellt einen Prozess dar, der die Schule fordert. Er muss aber, soll er gelingen, auf dem Sprechen, dem Dialog aufbauen können. «Die voralphabetische Oralität ist die Voraussetzung für die Literalität» meint Wolfgang R. Langenbucher. Auch das Elternhaus ist also gefordert für die Vorbereitung dieses Bildungsprozesses. Es braucht das Gespräch zwischen Eltern und Kind, dass später daraus Lesen möglich wird.

Nachrichten

Wir unterscheiden zwei Arten des Lesens. Erstens das «funktionale»: Lesen als Kulturtechnik, die hilft, sich in der Welt zurecht zu finden. Lesen als Werkzeug zum Denken, als Denk-Zeug. Wer in der Informationsgesellschaft nicht lesen kann, wird zum Aussenseiter und hat nichts zu sagen. Der Pädagogik kommt heute eine dreifache Aufgabe zu: Alphabetisieren, Bild-Alphabetisieren, Computer-Alphabetisieren. Und dies als «Lesen und Auslesen» (Christian Doelker). Erst über das Auslesen und Lesen von Buchstaben, Bildern, Tönen und Daten kommen wir zu den Nachrichten, nach denen wir uns im Leben meist richten.

Unterhaltung

Die Kulturtechnik Lesen kann aber auch die «Leere in den Herzen und die Öde im Gemüt» (Langenbucher) füllen. Lesen erfüllt uns mit Bildern und Sinnbildern, kann Sinn schaffen, Werte vermitteln. Das Lesen spendet uns in den Angeboten der Unterhaltung den Unterhalt, d.h. die Nahrung für die Seele. Dies die zweite, die «literarische» Art des Lesens. Solche Texte können Kinder, wie Petra Wieler meint, «in neue Entwicklungsphasen hineinführen», wenn Mutter oder Vater beispielsweise beim gemeinsamen Bilderbuch-Lesen den «Dialog» mit dem Buch in den Eltern-Kinder-Dialog überführen.

«Männer und Frauen lesen verschieden», stellte Andrea Bertschi-Kaufmann in einer breit angelegten Untersuchung im Kanton Aargau fest: männliche Jugendliche mehrheitlich «instrumentell», zur Information; weibliche «empathisch», als Erlebnis. Diese je verschiedene Leseform beim andern Geschlecht zu fördern, könnte durchaus positive, nämlich kompensatorische Wirkungen zeitigen.

Die Forschung über die Vergrösserung der Wissenskluft durch die Medien lehrt, dass die Wissenden immer mehr, die Unwissenden immer weniger wissen. «Die Wissenskluft-Forschung», meint Ulrich Saxer, «ist künftig unbedingt durch die Gefühlskluft-Forschung zu ergänzen.» Denn Menschen, die einen gewissen emotionalen Reichtum ihr eigen nennen, vergrössern diesen durch das Lesen, jene, die gefühlsmässig verarm sind, verarmen noch weiter.

Leseglück

Ben Bachmairs Feststellung, «Die Medien durchdringen unsern Alltag», ist bekannt. Doelker ergänzt sie im Blick auf neuere Entwicklungen mit: «Die Medien konstituieren heute unsern Alltag.» Breit ist das Angebot, welches uns das Lesen bietet: vom «Bescheid-Wissen» über die Welt (Niclas Luhmann) bis zur Chance einer «Lesbarkeit der Welt» (Manfred Rühl), vom «Lesen als Glücksversprechen», wie Alfred Messerli meint, bis zu Langenbuchers Diktum vom «Leseglück – einer vergessene Erfahrung».

PS: Am 23./24. März fand an der Universität Zürich das Internationale Symposion «Zur Kulturtechnik Lesen in der Mediengesellschaft» anlässlich des 70.Geburtstages von Prof. Dr. Ulrich Saxer statt. 15 Referentinnen und Referenten aus der Schweiz und den deutschsprachigen Nachbarländern waren dazu eingeladen. Die Referate der Veranstaltung, so ist geplant, wird Heinz Bonfadelli vom Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich herausgegeben.