Zwischen Skylla und Charybdis

Jeder Job ist, wenn er gut gemacht wird, schwierig, auch jener der Journalistinnen und Journalisten. Eine Auseinandersetzung über das Thema «Grenzen zwischen Persönlichkeitsrecht und öffentlichem Interesse» zeigte dies unerwartet intensiv und folgenschwer. Diese Arbeit leisteten die Mitglieder der Gruppe Allgemeines (AGA)* der Programmkommission zwischen Januar und März 2003. Ein weiteres Ergebnis der Gespräche war die Einsicht, dass es dabei kaum verbindliche Antworten, sondern nur Fragen und nochmals Fragen gibt.

Der Grund liegt wohl darin, dass es sich hier um zwei Grundbedürfnisse des menschlichen Lebens handelt. Zum einen gilt es, einzelne vor Übergriffen anderer zu schützen, zum andern die Interessen des Ganzen gegenüber den Teilen zu verteidigen. Der Kategorische Imperativ von Immanuel Kant, „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte“, bildet die Folie für diese Diskussion. Diese Polarität, die das Leben generell bestimmt, verdichtet sich im Journalismus, weil in ihm das gleiche gesellschaftliche Geschehen abläuft wie im Leben: auf der Ebene der Symbole zwar, nicht der Realität. Dass zwischen der realen und der symbolischen Ebene eine gegenseitige Abhängigkeit herrscht, verraten schon die Worte «Abbild», «Vorbild» und «Sinnbild». In der Frage «Persönlichkeitsrecht gegen öffentliche Interessen» geht es deshalb um kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch: um Grenzen, die eingehalten oder verletzt werden.

Grenz- und Zweifelsfälle

Wenn es zu klären gilt, ob der Schutz der Persönlichkeit oder die Interessen der Öffentlichkeit wichtiger sind, stossen wir auf Grenz- und Zweifelsfälle. Theoretisch und abstrakt sind diese Frage nicht zu beantworten. Nur am konkreten Beispiel, weshalb in der Medienarbeit ein grosses Mass an Selbstkritik verlangt wird. Hinterfragt werden muss auch, ob hinter den privaten oder öffentlichen Interessen sich möglicherweise noch andere, verschleierte, wie Quoten, Prestige, Rendite, verstecken.

Eine konkrete Anwendung findet dieses Abwägen bei der Frage des Bezeichnens der Nationalitäten. Ein stures Reglement, das beispielsweise bei jeder Nennung einer delinquenten Person das Ursprungsland verlangt, bringt wenig. Ein striktes Verschweigen dieser Angabe nicht mehr. Wichtig ist, fragend jede Situation abzuwägen; die Antworten werden dann immer noch verschieden genug ausfallen. Weiter helfen wird es, wenn wir abwägen und Prioritäten setzen. Ist bei einem bestimmten Menschen sein Ursprung oder sein Vergehen wichtiger? Hilft die Angabe des Herkunftslandes der Klärung? Ober lenkt dies eher von der Tat ab?

Verlangt wird auf kognitiver Ebene von den Medienschaffenden und vom Publikum Selbstverantwortung. Auf der emotionalen Ebene ist das Phänomen des Voyeurismus’ zu befragen, der Suchen und Neugier, aber auch Indiskretion und Vergewaltigung bedeuten kann. Auch dieser Ambivalenz ist nicht mit einem Regelwerk beizukommen, es bleibt das ständige Abwägen des Dafür und Dagegen. Im Kognitiven wie im Emotionalen gibt es keine hundertprozentige Antwort. Wir haben anzuerkennen, dass es die eine richtige Antwort nicht gibt, sondern bloss verschiedene, relative, partielle, vorläufige.

Anstand und Menschenwürde

Was verlangt wird, ist Transparenz, Fairness, Loyalität, Menschlichkeit. Anstand nennt man es im Alltag, Menschenwürde im Diskurs: die Würde vor dem Einzelmenschen und dem Menschenleben allgemein. In diesem Zusammenhang denken wir an die Bilder gefangener und toter amerikanischer Soldaten im Irak, deren Angehörige unvermittelt ihre Männer oder Söhne am Fernseher zu sehen bekamen. Nach unserer Auffassung hätten diese Bilder nicht auf den Bildschirm von SF DRS gehört, Worte hätten genügt. Und ob der aktuelle Krieg in seiner ganzen Brutalität gezeigt werden muss, um Menschen von neuen Kriegen abzuhalten, fragt man sich immer wieder neu, obwohl es ebenfalls nicht eindeutig und abschliessend beantwortet werden kann. Denn wir wissen, dass Gewalt in den Medien verschiedene Wirkungen zeitigt. An Mediengewalt kann man sich gewöhnen, sie stumpft ab. Sie kann Angst erzeugen, man wird gehemmt. Mediengewalt kann aber auch stimulieren, man lernt sie.

Wie es in der Gewaltdiskussion keine eindeutige Antwort gibt, so auch nicht in der Frage „Grenzen zwischen Persönlichkeitsrecht und öffentlichem Interesse“. Fragen ist gefragt! Von den Produzierenden und vom Publikum. Wir befinden uns in der gleichen Situation wie Odysseus, nach der griechischen Sage, als er zwischen dem Felsen der Skylla und dem Strudel der Charybdis unter Lebensgefahr hindurch segeln musste. Eine Gratwanderung ist es, übersetzt man jenes Bild in unsere Landschaft.

„Wenn sich Journalismus reduzieren lässt auf das Dabeisein, anstelle der Interpretation, auf den technischen Transport, anstelle der Erklärung von Ereignissen, führt er sich selbst ad absurdum“ (Siegfried Weischenberg). Dass Interpretieren immer persönlich und subjektiv ist, kann nicht geleugnet werden. Und damit schliesst sich der Kreis: Es bleiben subjektive Fragen, keine objektiven Antworten, und dies bis hin zum bekannten Satz von Ludwig Wittgenstein: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“

* Die Arbeitsgruppe AGA bestand für diese Arbeit aus Elisabeth Hallauer-Mager, Jana Kaufmann, Roswitha Lautenschlager, Hans Müller, Johann Nobs, Rudolf Ruchti, Florian Schmid, Hans-Peter Spahni, Robert Spichiger und dem Unterzeichnenden als Leiter. Die Arbeit bestand aus drei Sitzungen sowie Vor- und Nacharbeit. Grundlage der Arbeit bildeten diverse Ausgaben der Medienhefte (www.medienhefte.ch) und als Experte wurde Urs Meier, der Geschäftsführer der Reformierten Medien, eingeladen.