Vom Erlebnis-Marketing zur Erlebnis-Sozialarbeit

In der Wirtschaft, aber auch im Non-Profit-Bereich wurde in den letzten Jahren «Erlebnis» zu einem neuen Grundbegriff des Marketings und der Öffentlichkeitsarbeit. Dies ernst nehmen und in die Praxis umsetzen zu wollen, dazu ist Bereitschaft vorhanden. Wie «Erlebnis» als neues Paradigma auch im Marketing und in der PR der Sozialarbeit Einlass finden soll, darüber wird zu diskutieren sein. Dazu möchte ich mit diesem Text einladen.

Erlebnis-Marketing

Marketing und Öffentlichkeitsarbeit waren lan¬ge Zeit produkteorientiert und fussten auf der Idee der «Informationsgesellschaft» (Karl Steinbuch). Diese ging davon aus, dass Konsumenten wesentlich durch Informationen und deren Austausch funktionieren. Man hat nur zu informieren, und alles funktioniert bestens. Neu werden wir aber seit einigen Jahren als «Erlebnisgesellschaft» (Gerhard Schulze) definiert, was durchaus als Paradigmenwechsel verstanden werden kann. «Wer nicht erlebt, erlebt verkehrt», heisst es etwa.

Dieses neue Paradigma bestimmt das Marketing und die Public Relations, welche heute vor allem erlebnisorientiert, nicht produktorientiert funktionieren, welche «Infos» durch «Erfas» und «Beweise» durch «Events» ersetzen. Unter diesem neuen Wertekanon wird der Mensch nicht mehr ausschliesslich als Kopf-Wesen, sondern als Wesen mit Kopf, Herz und Hand begriffen und instrumentalisiert. Er wird nicht ausschliesslich über das Denken, sondern über Denken, Fühlen und Handeln,  über ein ganzheitliches Erleben angesprochen. Die Reduktion auf den «Bauch», wie in der Werbung vorherrschend, und auf den «Kopf», wie meist im Sozialwesen praktiziert, sind einseitig und dem Menschen nicht gemäss.

Surfen im Meer oder am Himmel, Snowboarden, Waven auf der Streetparade, Fun und Provokation als Politisieren am Christopher Street Day, Surfen auf dem Internet, Shoppen  in Erlebnis-Malls sind Formen eines neuen, weitverbreiteten Lebensgefühls, auf dem ein modernes Marketing und eine zeitgemässe Öffentlichkeitsarbeit aufbaut.

Konkret bedeutet Erlebnismarketing, dass wir unsere Botschaften vor allem als Geschichten («Stories»), weniger als Theorien («Philosophie») kommunizieren. Beispielsweise als Event mit einem Parcours durch die sozialen Einrichtungen einer Gemeinde (Arbeitslosenberatung, AHV-Büro, Seniorenamt, Jugendtreff, Asylantenunterkunft, Sozialberatung einer Firma, die Homepage der Behinderten, der Senioren, der Stellenvermittlung) veranstalten. Oder den Lehrfilm, die Beratersendung oder die regelmässige Rubrik in einem Printmedium mit dem Titel «Wie man mit Verwirrten umgehen soll» durch den Dokumentarfilm, das Radiofeature, die Illustriertenraportage, die Internetwebsite «Ein Tag im Leben von XY» ersetzt.

Wie im konkreten Fall «Erlebnis» das Marketing und die PR bei sozialen, Bildungs- und politischen Institutionen bestimmen kann, soll und darf – das ist zu diskutieren, verlangt innovative Phantasie, kommunikative und politische Analyse und schliesslich kritisches und selbstkritisches Probieren. Denn es liegt auf der Hand, dass nicht alles telquel vom «Raubtierkapitalismus» (wie Helmut Schmidt den heutigen Sherholder Value nennt) ins Soziale übernommen werden darf.

In der Freiwilligenarbeit wird man schon heute für sein Engagement in einer Weise belohnt, die diesem Erlebnis-Anspruch Rechnung trägt: indem man Gemeinschaft erfährt, in sozialen Netzen eingebunden wird, durch Forderung Förderung erfährt, verlorene Funktionen zurückerhält, Aufgaben als Auf-Gaben vorfährt. Vielleicht bildet diese Lösung der Freiwilligenarbeit ein Modell für Non-Profti-Marketing und -Öffentlichkeitsarbeit in der Erlebnisgesellschaft.

Public Relations und Marketing versuchen heute, die Menschen über das Erlebnis anzusprechen und zu beeinflus¬sen. Man spricht von Erlebniszentren, Erlebnisbädern und Erleb¬nisgastronomie, von Abenteuersportarten wie Bungee Jumping, Freeclimbing oder Riverrafting, aber auch von Erlebniswelten mit «emotionalen Mustern, Gegenwelten, Träumen» (David Bosshart), So funktioniert die Disco «Jail», indem sie nach dem Ausbruch aus dem Alltag mit dem Einbruch ins Gefängnis-Ambiente kitzelt. In diesem Sinn sind wohl auch andere spontane Discos im Freinen zu verstehen, die Corporate Identity durch «Corporate Games» mit Music, Fun and Sex versprechen.

Marketing-Praktiker wie der Bar-Betreiber Jürg Allgaier in Schuls sprechen davon, dass  sich Produkte «über den Gebrauchswert hinaus mit Erlebnissen anreichern lassen, (dass) die Leute nicht in eine Bar (gehen), weil sie Durst haben, sondern weil sie etwas erleben wollen». – In Opposition dazu versucht die Kölner Soziologin Maria Mies mit ihrer Konsumbefreiungsbewegung, «dem Markt die Erlebnisse zu entreissen, sie und sich selbst vom Warencharakter zu erlösen». Wenn dies nicht mehr möglich sei, verkommen die Politik, die Medien und das Kulturleben zu einem gigantischen Amüsierbetrieb, meint die Forscherin. – In Richtung solcher kritischer Fragen soll künftig auch von uns weiter diskutiert werden.

Erlebnis-Sozialarbeit

Betrachten wir das Phänomen «Erlebnis» aus historischer Sicht (siehe Literatur: Fridolin Herzog), erfahren wir, dass die Sozialpädagogik schon vor Jahrzehnten die Erlebnispädagogik «erfunden» und praktiziert hat. Daraus abgeleitet, stellen sich für uns nochmals grundsätzliche Fragen nach dem Paradigma «Erlebnis» in der Sozialpädagogik und Sozialarbeit: Würde die radikale Erfüllung des Erlebnis-Postulats in der sozialen und pädagogischen Arbeit den Erlebnis-Ansatz von Marketing und PR im Sozialen nicht erübrigen, ins Leere laufen lassen? Davon in einem späteren Aufsatz. Fürs erste sollten wir uns einmal auf den Paradigmenwechsel einlassen, Erfahrungen damit sammeln und dann weiter fragen.

Die Erlebnispädagogik postuliert, die Defizite der Klienten zu beheben, indem diese lernen, ihre Welt direkt und ganzheitlich zu erleben und im persönlichen Erlebnis neue Kräften zu schöpfen. Mit einigen Fragen sei hier ein Transfer vom Marketing und von der PR auf die Sozialarbeit versucht: Wirken Interventionen bei Klienten im sozialen Bereich nicht stärker, wenn wir bei ihnen auch das Gefühl und nicht bloss den Verstand ansprechen? Ist Arbeiten mit Profi- und Freiwilli¬gen-teams nicht wirksamer, wenn auch von Herz zu Herz, nicht bloss von Kopf zu Kopf kommuniziert wird? Basieren die altvertrauten Kopf-Interventionen nicht auf einer seit Sigmund Freud überholten Ideologie, nach welcher der «Kopf» durch den «Bauch» gesteuert werde?

Anstelle eines Vortrages an der Volkshochschule oder einem Diavortrag in der Pfarrei zum Thema «interkulturelle Arbeit» könnte im ganzen Dorf mit Einbezug vieler Vereine ein grosser «Multikulti-Fest» aufgezogen werden, bei dem es neben Essen und Trinken auch Gelegenheit gibt, Musik zu hören, zu tanzen, Lieder zu singen, Musik zu spielen, Geschichten vorzutragen, Spiele aus fremden Ländern zu spielen, darüber ein Buch oder eine Lokalradiosendung zu produzieren, kurz: miteinander in Kontakt zu treten: das Thema ganzheitlich zu erleben.

Ähnliches hat im Bereich Bildung Peter Jenny, Professor für Grundlagen der bildnerischen Gestaltung an der EHT Zürich, unternommen, als er mit einer Performance  das Kochen als elementares Gestalten vorgeführt, dann auf die Beziehung zwischen Produzieren und Rezipieren anspielte, indem das Publikum sich das Gestaltete einverleibte. Dabei ging es ihm darum, die Phantasie «teamfähig zu machen» und um «Fehlerfreundlichkeit» zu werben. Solche und ähnliche Versuche auf dem Gebiete des Sozialwesens könnten unter dem Paradigma «Erlebnis» echte Neuansätzen provozieren.

Darüber, was Erlebnis-Sozialarbeit sein kann, hat eine gründliche Auseinandersetzung einzusetzen. An¬dernfalls fusst die Sozialarbeit weiter auf dem alten Paradigma der Information, während in der Wirtschaft und im öffentlichen Leben das neue Paradigma des Erlebens herrscht. Diese Diskussion dürfte an die Substanz der Sozialarbeit und deren Marketing re

spektive Öffentlichkeitsarbeit gehen. Meines Erachtens gibt es zu diesem Thema bisher noch keine befriedigenden Antworten, bloss erste Fragestellungen und bescheidene Versuche. – Dass aus kriti¬scher Sicht schliesslich auch die Meinung vertreten werden kann, dass die beiden Positionen letztlich unverein¬bar sind, wäre eine neue Herausforderung. Doch beginnen wir vorerst mit dem Anfang und versuchen  einen Transfer des Erlebnis-Marketing vom Profit- auf den Non-Profit-Bereich.

Literatur

•    Fridolin Herzog (Hgr.), Erlebnispädagogik, Schlagwort oder Konzept?, Schweizerische Zentralstelle für Heilpädagogik, Luzern 1992

•    Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft, Kultursoziologie der Gegenwart, Campus-Verlag, Frankfurt und New York 1993

•    Gerhard Schulze, Vom Versorgungs- zum Erlebniskonsum, Produktentwicklung und -marketing im Wandel, gdi im-puls 3/1993, Seite 15-29

•    Karl Steinbuch, Die informierte Gesellschaft, Die Geschichte und Zukunft der Nachrichtentechnik, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1968