Für eine zweite, eine dritte Schulreform

Landauf, landab spricht man im Bildungswesen von Reformen. Die eine Schule soll die andere ablösen, ein System das andere ersetze. Wird aus dem Kindergarten und der Unterstufe eine Basisstufe? Lernen die Kinder Frühenglisch, Frühfranzösisch oder gar Frühdeutsch? Haben wir eine zwei- oder dreigliedrige Oberstufe? Wie gehen Berufsvorbereitung und Gymnasialvorbereitung an der Oberstufe zusammen? Stehen die Dorfschulen verstärkt unter Gemeinde- oder Kantonshoheit? Wird es vermehrt Niveauklassen geben? Welches Maturitätsreglement gilt künftig? Ist die Schule integrativ oder separierend und spezialisierend? Usw. Usf.

Solche Diskussionen führen vor allem Politiker. Und die Medien lassen uns aus Distanz daran Anteil nehmen. Zweifelsohne müssen diese Fragen irgendwann von irgendwem und irgendwie beantwortet werden. Hoffentlich im Blick auf die Zukunft der Jugend und nicht zum Sparen für die Reichen. – Wir sollten jedoch nicht meinen, dass damit das Wesentliche für eine bessere Schule und für glücklichere Kinder entschieden ist. Neben dieser strukturellen Schulreform ist eine zweite, die methodisch-didaktische nötig.

Bildungsauftrag

Entscheidender für das Gelingen des Unternehmens Schule erweist sich die Qualität des täglichen Unterrichtens: Welche Didaktik, welche Methodik wird angewandt? Welche Lerninhalte werden mit welchen Lernprozessen behandelt? Welche Lehrpläne schreiben welche Inhalte vor? Diese Diskussionen werden vor allem in der Lehrerschaft geführt.

Auf dieser Ebene spricht man seit Jahren über die Erweiterten Lehr- und Lernformen. Wenn diese im Unterricht greifen, etwas in einer Werkstatt, in einem Wochenplan oder auch im Frontalunterricht, wird dies wichtig für den Erfolg der Schule. Die Reformen auf der methodisch-didaktischen Ebene haben einen viel stärkeren Einfluss auf deren substantielle Verbesserung als noch so radikale Änderungen auf der strukturellen Ebene.

Zugegeben, die Reformen der Politiker schaffen (gute oder schlecht) Voraussetzungen für die Institution Schule, für den Bildungsauftrag mit den Zielen der Ich-, der Sach- und der Sozialkompetenz. Verantwortlich für eine Verschlechterung der Schule sind ihre Entscheide dann, wenn sie darauf abzielen, bei der Schule noch mehr zu sparen, die Klassen zu vergrössern, nötige Zusatzdienste (wie Schulsozialarbeit, Logopädieunterricht usw.) abzuschaffen, nicht einzuführen oder zu reduzieren. Entscheide, die nach meiner Meinung zwei Gründe haben: die Beschränktheit gewisser Parlamentarier (darauf können und müssen wir bei den nächsten Wahlen reagieren) oder die zu schlechte Information über das, was Schule ist (das könnte eine verbesserte Öffentlichkeitsarbeit der Schulen ändern).

Doch auch die Dimension des Methodisch-Didaktischen genügt nicht allein. Sie kann nicht verhindern, dass gelegentlich bloss «alter Wein in neue Schläuche» abgefüllt wird. – Eine dritte, eine innere Schulreform, tut not.

Erziehungsauftrag

Von dieser Reform indes spricht man in der Öffentlichkeit nur selten, obwohl gerade diese das Wesentliche meint, was die Schule im Innersten verändern und verbessern kann. Denn der Kern des pädagogischen Handelns ist und bleibt die zwischenmenschliche Kommunikation. Durch diese erst geschieht Erziehung, ereignet sich Bildung, entsteht Leben.

Gemeint ist die Haltung und das daraus erwachsende Handeln der Erwachsenen den Jugendlichen gegenüber, das Verhalten zwischen Lehrenden und Lernenden, das innere und äussere Klima, in dem Kinder und Jugendliche leben und sich entwickeln können, was der Schule erst ihren Kultur schaffenden Sinn verleiht. Dieses Ethos des Erziehens beinhaltet, ernst genommen zu werden als Mitmensch mit allen Bedürfnissen, Möglichkeiten und Begrenzungen, aber auch ernst nehmen der politischen und ökologischen Mit- und Umwelt. Das «Haus, indem wir leben», das die Ökosphäre umfasst, die «Schulhauskultur», welche die Schulleitbilder fordern.

Gemeint sind auch die Ideen der grossen Pädagogen, welche die Lehrerinnen und Lehrerinnen sich immer wieder zu Gemüte führen sollten. Einen Paolo Freire etwas, für den Bildung ein Werkzeug der Befreiung war. Einen Martin Buber oder Rudolf Steiner, eine Maria Montessori, einen Heinrich Pestalozzi oder Hartmut von Hentig und viele andere. Aber auch die Impulse, welche die Psychoanalyse und die Humanistische Psychologie in den letzten Jahrzehnten der Pädagogik gegeben haben.

Sie alle suchen mit ihrem Denken und Tun die Richtung und die Ziele, wohin das Leben zu leben ist. Ein solcher Diskurs, eine solche Schulreform müsste verstärkt werden. Sie betrifft Eltern, Lehrerschaft und die Öffentlichkeit in gleicher Weise. Ich hoffe, dass diese «dritte» Schulreform vermehrt in den Mittelpunkt der praktizierten Pädagogik tritt, wenn die Schule, nach der «ersten» und «zweiten» wieder zu ihrem Kern zurück gefunden hat.

Eins, zwei und drei

Vielleicht ist es ein Ablenkungsmanöver, wenn man in der Öffentlichkeit fast ausschliesslich über die strukturellen, in Lehrerkreisen vornehmlich die methodisch-didaktischen Dimensionen diskutiert und die pädagogischen vernachlässigt? Vielleicht ist es auch eine typische (Männer-)Reaktion, die stets im Machen Antworten sucht, wo Wachsen gefragt wäre? Vielleicht ist es die Angst, bei sich selbst mit der Veränderung anfangen zu müssen?

Auf allen drei Ebenen ist Schulreform gefragt, dürfen wir sie jedoch weder den Politikern, noch den Lehrkräften, noch den Schulpflegen, noch den Schulleitungen, noch den Eltern allein überlassen. Alle zusammen sind dazu aufgerufen, sind darin aufeinander angewiesen. Erziehung und Bildung ist Leben und Leben kann man nicht delegieren – nur leben.