Online-Games, «Second Life», «MySpace», «YouTube», Chatten und Handy mit SMS und MMS – eine pädagogische Herausforderung
Kaum hat die Medienpädagogik den Computer und das Internet zur
Kenntnis ge-nommen, fordern sie allerneueste Medien schon wieder zur
Stellungnahme heraus. Seit wenigen Jahren gibt es Formen der PC-Games
und Angebote des Internets, die in ihrer Radikalität den
Medienkonsum im Allgemein und jenen der Jugendlichen im Besonderen
verändern dürfte. Als erstes seien sie hier vorgestellt, als
zweites sollen vorläufige Antworten der Medienpädagogik
versucht werden.
Neben den bekannten PC-Games, die von Einzelpersonen gespielt werden,
kommen jetzt Games wie «World of Warcraft» für fast
unbeschränkt viele Teilnehmende auf den Markt. Ebenso
revolutionär ist «Second Life», eine virtuelle Welt,
in der man in ungeahnten Dimensionen spielen und handeln kann. Mit
«MySpace» und «YouTu-be» kam ein Medium dazu,
welches jedermann erlaubt, seine Bilder und Töne im Web zu
verbreiten und damit Millionen Menschen anzusprechen. Und das mobile
Te-lefonieren expandiert weiter.
Zum Einstieg einige Zahlen: 76% der Mädchen und 69% der Jungen
zwischen 10 und 18 besitzen Handys. Bei 38% der Mädchen und 47%
der Jungen stehen im Kin-derzimmer ein Computer, bei 30% respektive 45%
ein MP3-Player, bei 13 resp. 35% eine Spielkonsole. Tendenz steigend.
(Süss und Salzmann 2006) 80% der 12- bis17-Jährigen verwenden
ihre Mobiltelefone zusätzlich zum Spielen, Fotos machen und
verschicken, Musik hören und fürs Internet. (Eva Wyss) Vier
Fünftel der jüngeren Generation verfügten über
Spielerfahrung schon als Teenager, während bei den Babyboomern in
der Jugend nur ein Drittel gespielt hat. (Bodmer 2007)
Die neuen Medien, kurz vorgestellt
«World of Warcraft»
Dt. Welt der Kriegskunst, Abk. WoW, ist – im Gegensatz zu den
klassischen PC-Spielen wie etwa das (fragwürdige) Ego-Shooter-Game
«Doom» – ein Massively Multiplayer Online
Role-Playing Game (Massen-Mehrspieler-Online-Rollenspiel), das
zehntausende von Spielern gleichzeitig im Internet spielen können.
2004 von Blizzard Entertainment entwickelt, wird es, wie drei weitere
Spiele, im WoW-Universum angesiedelt. Es ist eines der beliebtesten
Online-Spiele, wird weltweit von über 8 und europaweit 1,25
Millionen Accounts aus gespielt. www.wow-europe.com/de
«Second Life»
Dt. Zweites Leben, Abk. SL, ist eine dreidimensionale, virtuelle, dauerhaft bestehen-de Umgebung, die vollständig von ihren Bewohnern (Avartare) erschaffen und wei-terentwickelt wird. Kreiert wurde SL 2003 von Linden Lab. Knapp 3,5 Millionen waren bis heute online, überproportional viele Schweizer wollen dort etwas erleben und Leute kennen lernen. 300’000 Menschen spielen regelmässig, rund 15’000 gleichzei-tig. Ins SL steigt man nicht bloss für einige Stunden ein, sondern hält man sich darin während Tagen, Wochen, Monaten immer wieder auf. SL ist jedoch keine gesell-schaftliche Utopie, sondern ein Markt (mit Linden-Dollars). Die Theorien der Ökono-mie sind in dieser virtuellen Welt genauso anwendbar wie im echten Leben. 17'000 Personen erwirtschaften darin zurzeit reale Gewinne. WoW und SL verändern den Medienkonsum vor allem quantitativ. Games waren bis vor etwa zehn Jahren Ein-personen-Spiele. Neu steigt man in diese zweite Welt, um mit tausenden zusammen zu sein. Weil viel Geld im Spiele ist, dürfte das Medium SL eine grosse Zukunft haben, sich weiter entwickeln und nicht so schnell von der Bildfläche verschwinden. www.secondlife.com
Pädagogische Gesprächsthemen: WoW als Einübung in eine
kriegerische Sozialisa-tion; SL als Zeit-Vernichter; SL wie ein
3D-Chatroom, um mit andern Kontakt aufzu-nehmen; Chancen und Gefahren
von Spiel und Kreativität.
Chatten und mobiles Telefonieren mit SMS und MMS
Chatten heisst, mit Hilfe des Computers in Echtzeit mit andern Menschen im Internet schriftlich kommunizieren, wofür man sich in einen Chattroom einloggen muss. Das Mobiltelefon mit SMS und MMS hat in den letzten Jahren durch eine völlig wild ge-wordene Liberalisierung einen Riesenaufschwung erfahren. 80% der 12- bis 17-Jährigen haben eines. Beide Medien verändern das Kommunikationsverhalten der ganzen Gesellschaft. Das Handy, fast überall eingeführt, wird, weil viele Firmen damit verdienen und es in der Arbeits- und der Freizeitwelt verankert ist, mit hoher Wahrscheinlichkeit einen weiteren Ausbau erfahren. Auch das Chatten in vielfältigen Communitys dürfte seine Zukunft haben.
Pädagogische Gesprächsthemen: Pro und Contra
Subito!-Kommunikation; Spontaneität versus
Oberflächlichkeit; Medien-Communitys versus reale Peergroups;
Gefahren beim Chatten.
«MySpace»
DT. Mein Raum, Abk. MS. 2003 wurde diese Internet-Kontaktbörse
gegründet und bildet heute das viertgrösste Internetportal
der Welt. Täglich melden sich 200’000 neue Nutzer an. 160
Millionen sind bereits dabei. Ohne technische Vorkenntnisse kann jeder
und jede kostenlos Tagebücher, Fotos, Songs und Videostreams ins
Netz stellen, das Portal als Werbeplattform benutzen und unbegrenzt
Geistesverwandte kennen lernen. In etwa ist es eine revolutionäre
Weiterentwicklung der iTunes-Angebote und der Podcasts der Radio- und
TV-Anstalten. www.myspace.com,de.myspace.com
«YouTube»
DT. Deine Glotze, Abk. YT. 2005 gegründete Website, auf der die Benutzer ebenfalls kostenlos Video-Clips hochladen und herunterladen können. 2006 gab Google die Übernahme von YT bekannt. Auf der Website findet man Millionen von copyright-freien Filmausschnitte, Musikvideos und selbst gedrehten Clips. Mit einem geschätzten Anteil von 45 Prozent ist YT der populärste Dienst dieser Art. Das Videoangebot der Muttergesellschaft Google kommt auf 23 Prozent. YT erweist sich als ein buntes Mitmach-Netzwerk. MS und YT verändern die Sehgewohnheiten, Politik und Popkultur. Die Internet-Fachzeitschrift «Wired» spricht von «Instant Entertainment» und «One Minute Media». «USA Today», Amerikas grösste Zeitung meint, YT sei «besser als 99 Prozent des normalen Fernsehprogramms». Das erfolgreichste Stück Trash-Kultur erweist sich als «eine Mischung aus Schwachsinn und Kreativität» («Spiegel»). www.youtube.com
Pädagogische Gesprächsthemen: Privat versus öffentlich;
mediale Globalisierung mit ihren Vor- und Nachteilen; Chaos und
Zufälligkeit versus modernes Bürgermedium; Spielen versus
Exhibitionismus.
Sozialisation und Medien-Sozialisation
Die Fakten, welche zu diesen neuen Medien zusammengetragen wurden, und
das, was Eltern, Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagogen
darüber denken und befürchten, lässt aufhorchen und
macht gleichzeitig unsicher. Antworten über den Medieneinfluss
auf Jugendliche besagen, dass – im Gegensatz zu Belletristik und
Sachbüchern, welche Eltern schätzen – der Einfluss des
Chattens und Online-Spielens als «eher negativ» bezeichnet
wird. (Diethelm 2006) Um die Frage etwas grundsätzlicher
anzugehen, gilt es zunächst die Entwicklungsaufgaben der 12- bis
18-Jährigen kennen zu lernen und dann die Medienangebote im Blick
auf diese Sozialisation zu befragen.
Entwicklungsaufgaben im Jugendalter
• Entwicklung der eigenen Persönlichkeit, Selbständigkeit und Selbstkontrolle
• Aufnahme und Aufbau intimer Beziehungen
• Aufbau einer Zukunftsperspektive
• Aufbau sozialer Kompetenzen
• kritische Haltung gegenüber der Gesellschaft
• Verständnis für komplexe Zusammenhänge in Politik und Wirtschaft
• Erwerb von Medienkompetenz
(Flammer & Alsaker 2002)
Ganz allgemein kann festgehalten werden, dass das Selbst-, Menschen und
Weltbild mitgeprägt wird und dass diese Entwicklungsaufgaben auch
mit den Medien bewältigt werden. (Süss) Wie geschieht dies
nun beim Gamen, beim Chatten und beim mobilen Telefonieren? Dazu gibt
es nicht die Antwort, sondern verschiedene Antworten. Die
Mediennutzung ist für jeden jungen Menschen neu zu betrachten.
Skizzenhaft nachfolgend einige Boabachtungshinweise.
Was geschieht beim Chatten, Gamen und mobil Telefonieren?
Fragt man Jugendliche, die chatten, gamen oder SMS und MMS versenden,
was sie dabei empfinden, was es für sie bedeute, dann erhält
man meist die Antwort «Es ist cool!» Doch was steckt
dahinter? Ein Nachfragen ergab folgende Umschreibungen: beherrscht,
gekonnt, gelassen, lässig, ruhig, souverän, abgefahren,
faszinierend, geil, genial, gut, ideal, interessant, klasse, schick,
super, toll. (Eva Wyss) Mir scheint, das sind durchaus Qualifikationen,
die im Blick auf die persönliche Entwicklung ernst zu nehmen sind.
Mit dem Mobiltelefon samt SMM und MMS und mit Chatten im Chattroom
gelingt es jungen Menschen, sich zu inszenieren, darzustellen, sich und
andere kennen zu lernen, sich mit andern anzufreunden, eine Gruppe zu
werden, aber auch, sich von un-coolen Dingen, Aktivitäten,
Chattern abzugrenzen, über andere zu lästern, zu klatschen.
Dies festigt nicht nur die Gesprächsnormen, sondern auch die
Beziehung zwischen den Beteiligten. Diese Medien bedienen anscheinend
die Bedürfnisse Jugendlicher in angemessener Form, ihre
Bedürfnisse nach Coolness, Beziehung, Selbstdarstellung, nach
einem Leben in einer Gegenwelt auszuleben. Sie wählen jene Medien
aus, in denen sie sich wohl fühlen, mit denen sie bei sich und bei
andern «zu Hause» sind. (Eva Wyss) Über Aussagen wie
«Mit dem Handy bin ich bei meiner Freundin auf Besuch»,
«Beim Chatten lerne ich neue Menschen kennen» sollte man
nachdenken, sie als Einstieg in Gespräche nutzen und die Voten
dann mit den allgemeinen Lebensumstände der Jugendlichen oder
Kinder in Verbindung bringen.
Was kann man tun?
Ich will nicht für andere sprechen. Meine Kinder und Jugendlichen
sind nicht die Kinder und Jugendlichen anderer. Darum sind meine
Vorschläge hier allgemein gehalten, sie geben bloss vier Schritte
an in die Richtung, die man medienpädagogisch einschlagen
könnte. Am besten sucht man in seiner konkreten Situation zusammen
mit Kolleginnen und Kollegen Antworten. Die «richtige»
Antwort nicht zu kennen, enthebt einen nicht von der Aufgabe, Antworten
zu suchen.
1. situationsorientiert einsteigen
Das Wichtigste zu Beginn: Es gibt sie nicht: die Medienpädagogik,
weil es die Medien und den Jugendlichen nicht gibt. Die (neuen) Medien
übernehmen bei jedem Menschen eine andere Funktion, spielen eine
andere Rolle, bedeuten anderes. Die Antworten sind deshalb
multifaktoriell und komplex. Und die Umstände, die Umfelder, die
aktuellen Situationen unterscheiden sich von Kind zu Kind. Das verlangt
ein genaues Hinschauen: Was bedeutet das Chatten bei diesem Kind? Das
Gamen bei jenem Jugendlichen? Das SMSSenden und mobil Telefonieren
hier? Der Eintrag bei «YouTube» oder «MySpace»
dort? Das Eintauchen in eine OnlinePlattform wie «World of
Warcraft»? Oder das Umsteigen in die Welt von «Second
Life»?
2. handlungsorientiert fortfahren
Besser jedoch als bloss die Kinder oder Jugendlichen in ihrem
Medienverhalten zu beobachten, ist es, selbst in die Rolle des Gamers,
des Surfers, der Chatterin usw. einzusteigen, es selbst auszuprobieren,
sich dabei möglicherweise von den Jugendlichen selbst in diese
Materie einführen zu lassen. Tun statt Reden! Gleichzeitig wird
dabei das alte Postulat der Antipädagogik, «Beziehung statt
Erziehung», erfüllt. Wir treten zu den jungen Menschen mit
ihrem Medienkonsum in Beziehung, Erziehung (im Sinn von Gebieten und
Verbieten) kann warten. Die aktive Medienkunde hat Ähnliches
schon seit Jahrzehnten gefordert und auch realisiert. Vielleicht kann
hier versucht werden, im kleinen Rahmen Bert Brechts
«RadioTheorie» (Produktion statt Konsumption)
zeitgemäss zu realisieren.
3. medienpädagogisch hinterfragen
Im Allgemeinen wird in den Bildungsinstitutionen lediglich die
Handhabung der neuen Medien, vor allem des Computers, gelehrt,
geübt, angewandt, das pädagogische Hinterfragen dieser
Medienkunde jedoch vernachlässigt. Es wird in Word, Excel,
PowerPoint usw. eingeführt und gezeigt, wie man EMails
verschickt, im Netz nach Informationen sucht und den PC vor Viren
schützt. Nur selten diskutiert man, welches die
medienpädagogischen Dimensionen dieses Tuns, dieser neuen
Kulturtechniken sind, welches der Nutzen und der Sinn oder Unsinn
dieser (neuen) Medien ist. Mit Martin Heideggers Haltung der
«vorauseilenden» und «einspringenden»
Fürsorge kommen wir sicherlich weiter.
4. projektorientiert abschliessen
Die offene Kinder und Jugendarbeit kann Chatten, Gamen, ganz allgemein den Umgang mit den neuen Medien, zum Thema machen, indem dieser in der Gruppe ausprobiert, darüber gesprochen und das Tun hinterfragt wird. In den meisten Fällen wird projektorientiertes Arbeiten möglich und bietet ausgiebig Gelegenheit zu freien Gesprächen, zu einer systematischen Verarbeitung und Erarbeitung, zu einer persönlichen Auseinandersetzung. Doch auch dabei ist zu beachten, dass es nicht zur Werbeveranstaltung für ein cooles Medium verkommt, sondern als soziokulturelle Animation oder medienpädagogische Arbeit verstanden wird.
(Die GewaltThematik wurde hier weggelassen; denn sie betrifft die alten wie die neuen Medien. Einen Beitrag dazu findet sich unter: www.hanspeter.stalder.ch. «Meine Dossiers», «Pädagogik», «ComputerSpiele – ein pädagogische Herausforderung».)
Angeregt wurde dieser Artikel durch die Tagung «Chatten, Gamen, Zappen» der PaulusAkademie Zürich vom 14. April 2007, geleitet von Lisbeth Herger von der PaulusAkademie und Mela Kocher vom Schweizerischen Institut für Kinder und Jugendmedien. www.paulusakademie.ch, www.sikjm.ch. – Die im Text erwähnten AutorInnen referierten dort oder wurden dabei zitiert.