Welche Jugend braucht das Land?

Jeder Alltagsbeschluss und jeder Grundsatzentscheid kommt aus einer Überzeugung. Dieser erwächst aus einem Wissen, das auf Denken, und einem Glauben, der auf Erfahrung basiert. Diese Überzeugung von Zeit zu Zeit zu hinterfragen, ist spannend und für alle, die mit Menschen in der Bildung oder Erziehung arbeiten, auch notwendig. Hier möchte ich auf diese Frage eine persönliche Antwort suchen. Dies nach mehr als vierzig Jahren pädagogischer Arbeit und zwölf Jahren Schulpflege. Doch wichtiger als die Antworten scheinen die Fragen: Was soll die Schule? Was ist ihr Bildungs-, ihr Erziehungsauftrag? Oder eben: Welche Jugend braucht das Land?

Eine Jugend, die gerüstet ist für diese Welt

Seit Jahren he isst es, unser Land braucht Jugendliche, die die Qualifikationen haben, die die Wirtschaft verlangt. Diese Antwort enthält Wichtiges. Sie verlangt, dass wir genau hinschauen, wie die Werte aussehen, welche die Wirtschaft vertritt und verlangt. Fürs erste scheint mir, dass es Fähigkeiten sind wie Kommunizieren, lebenslanges Lernen und Flexibilität. Im Leitbild der Schule Aargau heisst dies Ich-, Sach- und Sozial-Kompetenz.

Soweit sind wir uns meist einig. Erst wenn Konkretes verlangt wird, merken wir, dass dies in einer Welt des «absoluten Pluralismus» schwierig wird. Wir sind die erste Generation, die nicht weiss, nicht wissen kann, was die nächste Generation wirklich braucht, weil die Welt sich in einem Tempo verändert, dass Rückgriffe auf früher kaum mehr helfen.

Doch das stimmt nur halb; wir wissen es nicht mehr in gleichem Masse wie früher, weil das einzig Sichere die Unsicherheit ist. Uns bleibt nichts anderes, als immer wieder neu nach der Entwicklung der Welt zu fragen. Was mehr ist, als bloss den Forderungen der Wirtschaft zu entsprechen. Was wir dabei entdecken, wird nicht wie früher in Stein gemeisselt, sondern lediglich auf «Harddisk» gespeichert, kann jederzeit gelöscht werden. Das he isst, die Veränderung gehört wesentlich zu unserer Zeit. Treibsandtauglichkeit ist verlangt. Am fahrenden Zug die Räder wechseln.

Auf dem Meer, im Schnee, in der Disco, im Internet surfen ist eine typische Seins-Form der Jugend, unserer modernen Zeit, vielleicht auch der nächsten Generation. Im Glücksfall kann an dieser Form etwas abgelesen werden, was weiterhilft bei der Interpretation der Gegenwart und der Generation der Zukunft. Beobachten wir die Bewegungen der Surfer, beschreiben und analysieren wir sie! Vielleicht erhalten wir Antworten für das Morgen.

Eine Jugend. die gerüstet ist. unsere Welt zu verändern

Meist begnügt man sich mit der Zielsetzung, dass die Jugend sich in diese unsere Welt einpasst, deren Regeln und Normen übernimmt. Doch vollumfänglich sich eingliedern und integrieren? Das kann es wohl nicht sein. Dies wäre nur sinnvoll und verantwortbar, wenn diese Welt anständig, vernünftig, fair, gerecht, sinnvoll, menschlich wäre. Doch das wird wohl mit bestem Willen niemand als zutreffend bestätigen. Sicher nicht, wenn man als Welt nicht nur seine kleine "heile Welt", seine Klasse, seine Schule, seine Familie, seine Freunde, seine Gemeinde, sein Land versteht. Die Wirtschaft hat uns seit Jahren eingepaukt, dass unsere Welt globalisiert sei. Ob dies für die Wirtschaft richtig ist, vermag ich nicht zu beurteilen; wahrscheinlich stellt die Globalisierung der einzig mögliche Weg in die Zukunft dar, da die Zeit nicht zurück gedreht werden kann.

Doch geht es, so meine Überzeugung, nicht an, dass man nur wirtschaftlich «globalisiert». Wichtig scheint mir, dass in einer Welt, die durch die Massenmedien zum Dorf geworden ist, politisch, ja «menschlich globalisiert wird». Was heisst das für die Schule? Dass wir das Einzelne stets vom Ganzen her sehen, dass wir nicht bloss auf unsern Profit, unsere Qualität, unsern Frieden, unser Glück sorgen, sondern im Blick auf den ganzen Planeten. Denn die Welt ist ein riesiges Netzwerk. Was wir verbrauchen, fehlt andern; wo wir profitieren, verlieren andere, wo wir siegen, verlieren andere, wenn wir im Reichtum und Überfluss schwimmen, ertrinken andere in der Armut und Elend.

Zurück zum Ausgang: Wir brauchen dringend eine Jugend, die diese Welt auch verändern will. Welche Qualifikationen diese haben soll, ist noch zu erfragen. Mindestens jene ist unbestritten, dass Wissen immer etwas mit Gewissen zu tun hat oder haben sollte. Vielleicht werden wir jetzt etwas vorsichtig mit dem alleinigen Anspruch, dass wir eine Jugend brauchen, die gerüstet ist für diese Welt. Nein, wir brauchen auch eine Jugend, die gerüstet ist, unsere Welt zu verändern.

Ein optimistischer und ein realistischer Wunsch

Mein optimistischer Wunsch ist, dass möglichst viele Menschen, Lehrkräfte und Eltern, Kinder und Jugendliche, diese doppelte Zielsetzung der Schule sich zu Eigen machen und sich dafür einsetzen. Mein realistischer Wunsch ist, dass möglichst viele sich immer wieder die Frage stellen: Welche Jugend braucht das Land? Getreu dem Spruch aus den Mai-Unruhen 1968 in Paris, «Soyez realistes, demander l'impossible», bin ich zuversichtlich - und bescheiden genug zu wissen, dass es auch andere gute, vielleicht gar bessere Antworten auf meine Frage gibt als die meinen.