Braverman, Mark: Verhängnisvolle Scham

Der Jude Mark Braverman wurde 1948 geboren, lebt in Amerika, arbeitete als klinischer Psychologe und entwickelte neue Behandlungsansätze für die Krisenintervention und die Traumatherapie. Gegenwärtig widmet er sich jedoch voll der Arbeit für den Frieden in Palästina. Aufgewachsen in einem traditionellen jüdischen Zuhause war die Existenz des Staates Israel für ihn ein zentrales Merkmal jüdischer Identität: In der Staatsgründung war seinem Volk endlich Gerechtigkeit widerfahren. Doch seit er die israelische Wirklichkeit vor Ort kennen gelernt hat, zweifelt er daran, sieht die Vertreibung, das Unrecht, die Schikanen und die Willkür der israelischen Regierung und seine alte Gewissheit zerschellt an einer Mauer, die das Land durchzieht.

Er stellt Fragen zur Rolle der Religionen und den Möglichkeiten, die das interreligiöse Gespräch bei der Lösung des Konfliktes bieten kann und soll. Dabei argumentiert er vor allem mit jüdischen und christlichen Theologen der USA. Im ganzen Buch spürt man seine Betroffenheit: «Es ist eine Reaktion auf mein Entsetzen und meine tiefe Trauer darüber. Es stammt von einem Juden, der tief erschüttert ist von der Tatsache, dass Israel im Begriff ist, Palästina ethnisch zu säubern» (Seite 32). Für Nicht-Theologen ist das Werk teilweise etwas sehr fachspezifisch und schwer nachvollziehbar, obwohl einige der vorgetragenen Argumente überzeugen. So das aus dem Alten Testament abgeleitete «Argument» des Besitzanspruches auf Land, das zur konkreten Besetzung des Landes der Palästinenser geführt hat, oder die Feststellung «Der Zionismus war die Antwort auf den Antisemitismus des christlichen Europa» (74). Ebenso Aussagen von zitierten Autoren wie dem Israeli Boaz Evron, «Zwei fürchterliche Dinge geschahen den Juden in diesem Jahrhundert: der Holocaust und die Lehren, die sie daraus zogen» (35).

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Dieses Buch gibt Antworten, die für Juden wie Christen gleichermassen unbequem sind. Es zeigt, auf welch fatale Weise sich in Israel die religiösen Traditionen des Bundes, der Auserwählung und der Landverheissung mit einem nationalistischen Eroberungsprojekt verbunden haben und wie Christen diesem auf Mythen basierenden Geschichts- und Glaubensverständnis schamhaft folgen. Er meint: «Israel leidet unter einer Form von kollektivem posttraumatischem Stresssyndrom» (244) und fragt mit Alex Sinclair: «Wann werden die USA damit aufhören, unsere Sucht zu unterstützen, indem sie die illegale und selbstzerstörerische Politik unserer Regierung finanzieren» (264).

Weiterhelfen könnte, wenn Juden und Christen selbstkritisch an die grossen prophetischen Traditionen ihrer je eigenen Bibel anknüpfen, Gerechtigkeit über alles stellen und zur Norm realen Miteinanderlebens machen. Dieser Geist prägt Mark Bravermans lesenswertes Buch. Klar ist ihm auch, dass blosse private Solidarität heute nicht mehr genügt, dass vor allem Amerika und Europa – also auch Deutschland und die Schweiz – politisch handeln müssen. Ein solches Handeln setzt indes, so meine ich, noch viel Aufklärung bei den politisch Verantwortlichen und der breiten Öffentlichkeit voraus. Und solche bietet, neben andern Autoren, auch Mark Braverman – er vor allem für Menschen, denen eine religiöse, jüdische wie christliche, Argumentation wichtig ist. Er liefert mit «Verhängnisvolle Scham» einen fundierten Beitrag zur bekannten These von Hans Küng: «Kein Weltfriede ohne Religionsfriede».

Braverman, Mark: Verhängnisvolle Scham. Israels Politik und das Schweigen der Christen. Gütersloher Verlagshaus. Gütersloh 2011, 335 Seiten