Grossman, David: Eine Frau flieht vor einer Nachricht

David Grossmann wurde 1954 in Jerusalem geboren, studierte dort Philosophie und Theater, arbeitete anschliessend als Korrespondent und Moderator für Kol Israel, das öffentlich-rechtliche Radio. In mehreren Büchern äusserte sich der Friedensaktivist kritisch zum Nahostkonflikt. (Siehe dazu den Buch-Tipp vom November 2009: «Diesen Krieg kann keiner gewinnen»). Im August 2006 forderte er, gemeinsam mit Abraham B. Jehoshua und Amoz Oz, von Israels Regierungschef Ehub Olmert ein sofortiges Ende der Kämpfe im Libanon. Wenige Tage später, einige Stunden vor Kriegsende starb sein Sohn Uri auf dem Schlachtfeld. Zur gleichen Zeit arbeitete Grossman am Schluss seines grossen Werkes «Eine Frau flieht vor einer Nachricht».

In diesem Roman erleben wir die Panik einer Mutter, die ihren Sohn zum Sammelplatz begleitet, von wo er in den Krieg ziehen wird. Eine alltägliche israelische Erfahrung. Freiwillig hat der junge Mann sich zum Militäreinsatz im Westjordanland gemeldet. Immer wieder in der folgenden Zeit stellt sich die Mutter das Klopfen an der Tür vor, wenn Offiziere ihr die Nachricht von seinem Tod überbringen. Davor flieht sie. Sie entscheidet sich zu gehen. nicht zu warten. Solange sie andern Menschen sein Leben erzählt, lebt er. Wie der Schriftsteller diese Frau namens Ora im Laufe ihrer langen Wanderung die Splitter der letzten zwanzig Jahre ihres Lebens behutsam aufheben und zusammensetzen lässt, ist ein beispielloser Akt der Auseinandersetzung mit der eigenen Ohnmacht. Am Ende weitet er den Blick vom Privaten, obwohl die Bedrohung bleibt, ins Politische, ins Allgemeinmenschliche. Es geht um die Verlustangst, die typische Verlustangst der heutigen israelischen Bevölkerung.

In einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger» vom 9. Dezember 2009 geht Grossman dieser Verlustangst, dieser Angst vor der Nachricht, dieser Flucht vor der Realität nach: «Israel befindet sich in einer merkwürdigen Situation. Es stellt sich schlafend und taub, weil es nicht fähig ist, seiner komplexen und bedrohlichen Lage zu begegnen (…) Dieses Land, das so voll ist von Talenten, Fähigkeiten und Tatkraft, ist erstarrt wie ein Kaninchen vor der Schlange angesichts des Unvermeidlichen, das zu tun wäre, und das jeder kennt (…) Aus religiöser und messianischer Ideologie geht fast die ganze Energie Israels, der grösste Teil des Budgets und die Libido der Debatte seit 42 Jahren in die Siedlungen. Und die Menschen werden immer religiöser, weil die Realität immer komplizierter wird. Religiöse sehen die Welt sehr simpel: Die Araber sind die Dämonen, wir sind die Heiligen. Auf der anderen Seite dasselbe.»

In diesem grossen Roman erzählt Grossman eine vielschichtige Familiengeschichte im heutigen Israel, erfüllt von Leben und von Welt, und gleichzeitig zeichnet er ein exaktes Psychogramm des Lebens im Land. Für Menschen, welche diese Dimension des Nahostkonfliktes, jenseits von Strategie und Historie, erfahren wollen, ein Muss! Schade nur, dass es auf palästinensischer Seite keinen Autor von gleichem Format gibt.

Eine gute Einführung bietet das Interview mit dem Autor auf http://www.youtube.com/watch?v=XwuKQYSh1kc.

David Grossman: Eine Frau flieht vor einer Nachricht. Hanser, München 2009, 727 Seiten