Nevo, Eshkol: Vier Häuser und eine Sehnsucht

In Israel ist der Roman «Vier Häuser und eine Sehnsucht» von Eshkol Nevo bereits ein Bestseller und liegt in allen Buchhandlungen neben den Büchern von Oz, Grossman, Yehoschua und Shalev. Diese Feststellung verpflichtet, das ernst zu nehmen, was er vom heutigen Israel abbildet und was anscheinend als Abbild auch gern gesehen wird: als seismographisches Bild der Befindlichkeit der Bevölkerung des Landes.

Der Roman handelt in der Zeit nach der Ermordung von Premierminister Rabin und vor der zweiten Intifada in einem Vorort von Jerusalem. Er erzählt vor allem von jungen Menschen: dem Studentenpaar Noa und Amir, von Mosche und Sima, einer Familie, deren Sohn gerade im Libanon gefallen ist, und dessen kleinem Bruder. Er berichtet von ihren Nöten und Sorgen, Freuden und Hoffnungen, Sehnsüchten und Verzweiflungen, Sympathien und Antiapathien, von Freundschaften und Liebesbeziehungen, von Sex und Sterben – ihrer kleinen privaten Welten.

Leider fehlen in der deutschen Ausgabe Übersetzungen oder wenigstens Umschreibungen zahlreicher hebräischer Wörter. Wer weiss bei uns schon, was «tfadall», «lebanee», «Schu kran», «achi», «chalass», «jechreb bejtak», «ma’awel», «ya achi», «yalla», «hada et-tabu» oder «schakschuka» heisst?

Eshkol Nevo erzählt Alltagsgeschichten, Privatangelegenheiten, Beziehungskisten und beleuchtet diese aus verschiedenen Perspektiven und in unterschiedlichem Tonfall. Zusammen ergeben sie ein Mosaik, dessen Palette von kunterbunt-farbig bis traurig-schwarz reicht, eine unterhaltsame und anschauliche Schilderung der Befindlichkeit der Menschen in Israel nach 1995. Geschrieben ist der Text lebendig, elegant, phantasievoll und süffig. Nevo hat ein Psychologiestudium hinter sich, arbeitete als Werbetexter und unterrichtet heute «Creative Writing» an der Universität Tel Aviv. – Dies vielleicht ein Grund für den Erfolg des Romans bei der Kritik.

Doch es ist ein Text, der nicht wirklich berührt, betroffen macht, der zum Verweilen einlädt oder zum Denken provoziert. Er bewegt sich in einer – für mich kaum fassbaren – Scheuklappen-Mentalität um eine Gruppe junger, privilegierter jüdisch-palästinensischer Menschen, ohne die Andern in diesem Lande, ohne die Politik, mit Ausnahme eines Selbstmordattentats, angemessen zu berücksichtigen. – Dies vielleicht ein Grund für den grossen Erfolg des Romans beim breiten Publikum.

«Ein unpolitisches Buch aus dem politischen Alltag in Israel», meint ein Amazon-Leser. Dem pflichte ich bei. Denn was in Israel/Palästina wirklich abläuft oder abgelaufen ist, wird weitgehend ausgespart. Dass Checkpoints die Mobilität und damit auch die Arbeit und den Handel der Palästinenser erschweren bis verunmöglichen, dass das gesetzeswidrige Zurückbehalten von Steuergeldern die Palästinenser aushungert, dass die israelische Politik seit vierzig Jahren für die Besetzten eine einzige Erniedrigung darstellt usw. usf. Von all dem muss man nichts lesen, während man über vierhundert Seiten hin die menschlich allzu menschlichen Geschichten in Nevos’ Bestseller geniesst! – Das gibt zu denken und stimmt sehr, sehr traurig.

Eshkol Neve: Vier Häuser und eine Sehnsucht. Roman. DTV, München 2007, 435 Seiten, ISBN 978-3-423-24564-7