Grossman, David: Die Umarmung

 

Es gibt dicke Bücher, die einem wenig, und es gibt dünne, die einem viel bedeuten und mitgeben. Ein solches ist das dünne Bändchen «Die Umarmung» von David Grossman, der 1959 in Jerusalem geboren wurde und von dem bisher grosse Romane über das Leben in Israel und kluge Analysen des Nahostkonfliktes erschienen sind. Die Protagonisten seines neuesten Werkes sind eine Mutter und der kleine Ben, die miteinander einen Spaziergang machen und dabei ins Gespräch kommen.

Die Mutter sagt zu ihrem Jungen, dass sie ihn lieb habe und er einzigartig sei auf der ganzen Welt. Was sie als Wertschätzung versteht, macht ihn traurig. Er möchte, dass es noch andere gibt wie er, die Eltern genügen ihm dafür nicht. Doch genauso wie er ist, gibt es nur ihn, ist er also allein. «Jeder ist ein bisschen allein und auch ein bisschen mit den andern», tröstet ihn die Mutter. Eine vorbei Ameisenschar am Weg lässt ihn weiter über diese Einsamkeit sinnieren, bis ihn die Mutter umarmt und er spürt: «Jetzt bin ich nicht mehr allein.»

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Zarte, fast durchsichtige, wie hingehauchte Zeichnungen der israelischen Künstlerin Michal Rovner illustrieren diese kindlich einfache und gleichwohl tiefsinnige Geschichte, schaffen eine Stimmung zum Sinnieren. Diese ganze Erzählung ist für mich ähnlich allgemeingültig wie einzelne Teile des «Kleinen Prinzen» von Antoine de Saint-Exupéry. Und wenn man dieses überall gültige Gleichnis des Immer-Allein- und gleichzeitig Aufeinander-Angewiesen-Seins auf die Situation in Israel und Palästina überträgt, hat sie auch dazu eine Botschaft, über die nachzudenken es sich lohnt. Denn «es gibt auch keinen andern so wie du auf der ganzen Welt» kann durchaus als Verabsolutierung des eigenen Volkes gegenüber den andern gelesen werden. Doch «ich bin ein bisschen allein und ein bisschen mit den anderen» kann dann auch als eine visionäre Antwort auf die unselige Situation im Nahen Osten verstanden werden.

Grossman, David: Die Umarmung. Mit Zeichnungen von Michal Rovner. Hanser Verlag, München 2012