Nakba, die Katastrophe

Eine Ausstellung mit Zusatzangeboten, einem Besuch der Friedensaktivistin Sumaya Farhat-Naser - und ein Buch-Tipp: drei Ansätze für etwas Licht ins Dunkel der hoffnungslosen Situation in Nahost.

1948 ist das Jahr der Gründung Israels, welches jährlich von den Israeli feierlich begangen wird. 1948 ist aber auch das Jahr der Nakba/der Katastrophe der Palästinenser, welche seit 65 Jahren unter der Vertreibung, Besetzung und Diskriminierung durch den jüdischen Staat leiden. Eine Wanderausstellung in der Offenen Kirche St. Gallen ist diesem traurigen Ereignis gewidmet. Bei diesem Zeitpunkt – wie bei vielen andern – stehen die Fakten der Neuen Historiker, einiger arabischer, zahlreicher israelischer Wissenschaftler, den Mythen gegenüber, mit denen orthodoxe und ultraorthodoxe Juden in Israel und Anhänger gewisser evangelikaler Freikirchen bei uns gegenüber.

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Die Mauer steht in der Landschaft und wirkt in den Köpfen (Foto Ruth Stadelmann).

Die Ausstellung als Denkanstoss

Die Ausstellung «Die Nakba» zeigt die Geschichte der Flucht und Vertreibung von über 700‘000 Palästinenser und Palästinenserinnen und ihrer Enteignung auf. Die Darstellung und Erklärung der Ursprünge des Nahostkonflikts schafft Verständnis für heutige Realitäten und öffnet Perspektiven für mögliche Formen einer Zukunft in diesem Land. Sie thematisiert in 14 Schautafeln und mit Videopräsentationen die damaligen Ereignisse und die darauf folgenden Entwicklungen bis in die Jetztzeit. Die Ausstellung legt den Fokus auf die Geschichte der palästinensischen Flüchtlinge, deren Schicksal bis heute ein Stolperstein auf dem Weg einer Annäherung zwischen Israel und Palästina ist. Die Ausstellung möchte Raum bieten für eine Auseinandersetzung mit dem Palästinakonflikt. «Eine derart schmerzhafte Reise in die Vergangenheit ist der einzige Weg nach vorn, wenn wir eine bessere Zukunft für uns alle, Palästinenser wie Israelis, schaffen wollen», schreibt der israelische Historiker Ilan Pappe.

Gäste, Zusatzangebote

Eröffnet wird die Ausstellung am Sonntag, 2. Juni, um 17.00 Uhr, von Maria Schafflützel mit ihrem Bericht «Warten am Checkpoint», in welchem sie erzählt, was sie als Menschenrechtsbeobachterin in den besetzten Gebieten gesehen, gehört und erfahren hat. Abgerundet wird der Abend mit Musik und einem Apéro.

Unter dem Titel «Der Heile Raum» bietet Steffi Schmid am Dienstag, 4. Juni, um 12.15 Uhr, eine Meditation für den Frieden im Heiligen Land an. Im Anschluss wird eine Resolution verlesen für das Zusammenleben der Menschen in Israel und Palästina.

«Wie gehen Organisationen der israelischen und palästinensischen Zivilgesellschaft mit dem Erbe der Nakba um?» ist das Mittagsgespräch am Mittwoch, 5. Juni, um 12.15 Uhr, welches Angela Elmiger leitet. Um 19.30 Uhr findet ein Podiumsgespräch statt mit der Palästinenserin Frida Roser, dem Historiker Max Lemmenmeier und Jochi Weil-Goldstein, Mitglied der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich, moderiert vom Politologen Arne Engeli.

Am folgenden Montag, dem 10. Juni, gibt es um 12.15 Uhr ein Mittagsgespräch und um 19.00 Uhr einen Vortrag von Sumaya Farhat-Naser, der Menschenrechts- und Friedensaktivistin und Buchautorin aus Birzet bei Ramallah. Sie setzt sich seit Jahren für einen Friedensprozess im Nahen Ost ein und versuchte dies, solange es ging, in Gesprächen zwischen israelischen und palästinensischen Frauen und in neuerer Zeit vor allem mit Kindern und Jugendlichen: «Ich will jungen Menschen helfen, nicht zu zerbrechen.»

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Sumaya Farhat-Naser an der Universität Birzet (Foto HS)

Ein brandneues Buch: «Apartheid und ethnische Säuberung in Palästina. Der zionistische Siedlerkolonialismus in Wort und Tat» von Petra Wild

Die Literatur über Israel und Palästina, ihre historischen, religiösen, politischen und wirtschaftlichen Hintergründen ist immens. Zwei Websites zur Literatur finden sich am Schluss. – Das neueste, aktuellste, das Wesentlichste umfassende Buch soll hier vorgestellt werden:

Im Gegensatz zu Pappe, Segev, Sand, Zuckermann, Finkelstein und Zertal ist Petra Wild bei uns noch wenig bekannt, was sich nach dieser Buchveröffentlichung jedoch ändern dürfte. Wenn jemand den Nahostkonflikt in einem Buch zusammengefasst studieren möchte, würde ich ihm heute «Apartheid und ethnische Säuberung in Palästina» empfehlen. Die Autorin wurde 1963 in Hessen geboren, beschäftigte sich seit 1982 mit Palästina und der arabischen Welt, studierte zwischen 1989 und 2007 am Notre Dame-Institut in Jerusalem, an der Universität Leipzig, am Institut des Études arabes in Damaskus und am Institut für Afrika- und Asienwissenschaften der Humboldt-Universität in Berlin. Heute arbeitet sie freiberuflich als Islamwissenschaftlerin und Publizistin zur Palästina-Frage und zur Arabischen Revolution. Vorweggenommen sei schon jetzt: Petra Wild schreibt lesbar, was nicht selbstverständlich ist für Wissenschaftler.

Das vorliegende Buch fordert emotional heraus, denn es beschreibt die Unmenschlichkeiten, welche Israel und der Zionismus den Palästinensern antun, schonungslos. Ich gebe zu, ich musste es mehrmals weglegen. Allein schon die folgenden «Titulierungen» der Palästinenser durch prominente Israeli (Seite 80/81) schockieren: Menachem Begin nannte sie «Tiere auf zwei Beinen», der ehemalige Generalstabchef Raphael Eitan «hirnlose Kakerlaken», der Politiker und ehemalige General Ehud Barak «Krokodile», der Rabbiner der Siedlung Kiryat Arba bei Hebron «Wölfe», der ehemalige Grossrabbiner Ovadia Yosef «Schlangen», der Likud-Abgeordnete Yeiel Hazan «Würmer. Wie Würmer sind die Araber überall, unter der Erde, über der Erde, mit allen Mitteln haben diese Würmer dem jüdischen Volk in den letzten hundert Jahren Schaden zugefügt, und wir strecken unsere Hand zum Frieden aus, als ob nichts geschehen wäre.»

Die Arbeit basiert auf den Erkenntnissen der Kolonialismus- und Genozidforschung, die den Zionismus als eine Form des europäischen Siedlerkolonialismus ausweisen, sowie auf den Fakten der Neuen, mehrheitlich israelischen Historikern. In der Einführung beschreibt die Autorin den Ursprung des palästinensisch-israelischen Konflikts und den ethnischen Charakter des Staates Israel. Detailliert geht sie auf die israelische Politik gegenüber den Palästinensern ein, die von israelischen, palästinensischen und internationalen Menschenrechtsorganisationen und den UN-Organisationen als Apartheid und ethnische Säuberung bezeichnet wird.

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Die illegale Siedlung Har Homa mit mehr als 13‘000 Einwohnern (HS)

Im ersten Teil legt Wild dar, wie die Palästinenser einer systematischen rassistischen Diskriminierung und Segregation, des fortgesetzten Landraubs und der Vertreibung ausgesetzt sind. Am Beispiel des Negev werden die ökonomische und geographische Strangulierung der einheimischen Bevölkerung, die Zerstörung ihrer Kultur und die zugrunde liegenden ideologischen und politischen Prämissen dargestellt. Im zweiten Teil schildert sie die israelische Kolonialpolitik, deren Prinzipien sie seit ihren Anfängen folgt und wie diese durch die Oslo-Abkommen modifiziert wurden. Denn der Oslo-Prozess war kein Friedensprozess, sondern die Umsetzung lang gehegter israelischer Pläne, die palästinensische Bevölkerung mithilfe einheimischer Mittelsmänner niederzuhalten. Weiter wird auf Ähnlichkeiten und Unterschiede der israelischen Politik im Vergleich zur südafrikanischen Apartheidpolitik hingewiesen. Den Abschluss bilden ein Kapitel über die Blockade des Gaza-Streifens und die damit in Verbindung stehende Genozid-Debatte.

Nach all diesen Hoffnungslosigkeiten gibt es im Schlusskapitel einen Hoffnungsschimmer – oder angesichts der aktuellen Weltpolitik – doch nur eine Fata Morgana: die Vision der Einstaatenlösung, wie sie unter Palästinensern, antizionistischen Israelis und Aktivisten der internationalen Solidaritätsbewegung seit einiger Zeit diskutiert wird. Angestrebt werden soll damit die Errichtung eines demokratischen säkularen Staates auf dem Boden des historischen Palästinas, in dem muslimische, christliche und drusische Palästinenser und ebenso jüdische Israeli auf der Basis gleicher Rechte zusammenleben. Diese binationale Lösung für Israel/Palästina würde nicht nur den Palästinensern ihre von der UNO anerkannten Rechte auf Selbstbestimmung, Rückkehr und Entschädigung garantieren, sondern auch die jüdisch-israelische Bevölkerung von ihrem Status als Kolonialherren befreien. – Dass aus den gleichen Überlegungen andernorts die Lösung mit einem «islamischen Gottesstaat» gleichermassen in eine Sackgasse führt, ist offensichtlich.

Dass der Fokus der Autorin klar auf dem «Täter» Israel gerichtet ist und die hilflosen und zum Teil dummen Reaktionen der Palästinenser ausblendet, sei festgehalten, entspricht am ehesten der Realität vor Ort. Petra Wild vermeidet konsequent die feige und verlogene «Ausgewogenheit» so mancher Diskussionen zu diesem Thema.

Wild, Petra: Apartheid und ethnische Säuberung in Palästina. Der zionistische Siedlerkolonialismus in Wort und Tag. Promedia Verlag, Wien 2013. 232 Seiten

Für die Weiterarbeit

Eine 32-seitige Broschüre zur Ausstellung «Die Nakba. Flucht und Vertreibung der Palästinenser-/innen 1948 und heutige palästinensische Realitäten» ist vor Ort zu kaufen und dient der Vertiefung.

Aktuelle Übersicht über Ereignisse, Veranstaltungen, Veröffentlichungen im Umfeld Nahost vor allem für die Schweiz bietet die Website von Nahostfrieden.

Übersicht über die Literatur bietet meine Website; die Website von Nahostfrieden ist darauf verlinkt.