Roy, Oliver: Heilige Einfalt

Will man den Nahost-Konflikt verstehen, sollte man neben den politischen die religiösen Dimensionen nicht ausser Acht lassen (erinnert wir uns an die kürzlich gemachte Aussage Netanjahus, wonach Jerusalem heute und in alle Zukunft den Juden gehöre, was doch nur mit der Religion zu begründen ist). «Heilige Einfalt» ist eine wissenschaftliche religionssoziologische Studie, die theologisches und religionsgeschichtliches Wissen voraussetzt, dann aber zu neuen Einsichten verhelfen dürfte. Der Autor Olivier Roy wurde 1949 geboren, ist Professor am Robert Schuman Zentrum des Europäischen Hochschulinstituts in Florenz. Er hat viel über den politischen Islam, den islamistischen Terrorismus und den Mittleren und den Nahen Osten publiziert.

Religionen jeder Couleur haben weltweit wachsenden Zulauf, heisst es heute. Doch stellt dieser Umstand keine Rückkehr zur traditionellen religiösen Praxis dar. Vielmehr hat die Globalisierung eine folgenschwere Trennung zwischen Religion, Nation und Kultur bewirkt: «Die Religionen werden heute zunehmend zu „Glaubensgemeinschaften“, die mit den Kulturen in ihrem Umfeld nichts mehr zu tun haben. Manche Bewegungen wählen die Isolation, fördern die Endogamie und streben schliesslich nach Territorialisierung, um unter sich bleiben zu können. Andere hingegen sind universalistisch und auf Expansion bedacht.» (295) Jeder bastelt sich heute seinen eigenen Glauben. Zigtausende Übertritte von Muslimen in Mittelasien zu den Zeugen Jehovas belegen diese Entwicklung ebenso wie die Konversionen von Europäern zum Salafismus (Strömung des Islam, der sich ausschliesslich an den Quellen der Frühzeit, dem Koran und der Sunna orientiert). Glaube und Religion unterliegen also einem grundlegenden Wandel. Sie übernehmen, analog dem globalisierten Markt eine Vereinheitlichung ihrer Wahrnehmung und Ausübung (Vermarktung), während gleichzeitig Religiosität zu einer individuellen Angelegenheit wird. Das führt oft zu einer «heiligen Einfalt», die eine grosse Zukunft vor sich haben dürfte: einer anti-intellektuellen Haltung, die einen unmittelbaren, gefühlsbetonten Zugang zum Heiligen erwartet und sich damit als fruchtbarer Nährboden für religiösen Fundamentalismus erweist. Diese und ähnliche Herausforderungen an den Staat und die Gesellschaft analysiert der Autor fakten- und theorienreich.

Olivier Roy: Heilige Einfalt. Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen. Siedler-Verlag, München 2010, 334 Seiten.