Wouilloud, Sandra: Younes S. - ein palästinensischer Junge

Jugendliche in israelischen Gefängnissen

Täglich hören, sehen und lesen wir Meldungen aus dem Heiligen Land, das seit Jahrzehnten eigentlich "unheilig" genannt zu werden verdient. Berichtet wird von Selbstmordattentaten der Palästinenser und von Vergeltungsaktionen der israelischen Armee. Hier drei Tote, dort zwanzig Verletzte. Diese fast zufälligen Meldungen bilden nur die Oberfläche ab, unter die wir nur äusserst selten zu sehen vermögen. Gelegentlich ist es ein Kinofilm, wie gegenwärtig «Private» von Saverio Costanzo oder «Paradise Now" von Hany Abu-Assad, oder ein rarer grösserer Bericht im Fernsehen oder Radio, die uns Teilaspekte einer «Innenansicht» des Lebens in diesem besetzen Land zur Kenntnis bringen und erlebbar machen. Der folgende Erlebnisbericht von Sandra Wuilloud enthält nichts Sensationelles, sondern zeigt die gewöhnliche Unmenschlichkeit, den alltäglichen Wahnsinn des Lebens in diesem «Land, das zu einem einzigen grossen Gefängnis gemacht» wurde. Hanspeter Stalder

Als wir durch die schmale frisch geteerte Strasse von Arroub, einem Flüchtlingslager vier Kilometer nördlich von Hebron, spazieren, wagen sich einige scheu lächelnde Kinder uns zu folgen, bevor sie sich in eine lachende Bande verwandeln. Sie trennen sich von uns erst, als wir die Strasse verlassen, um über mehrere, völlig zerstörte Treppenstufen die betonierte winzige Terrasse der Familie S. zu erreichen. Younes S*, den wir besuchen, ist am 31. Mai 1989 auf die Welt gekommen. Sein Lächeln ist schmal wie seine Gestalt. Und die traurigen Augen dieses schmächtigen Jungen, der an der Türe steht, um uns willkommen zu heißen, treffen mich ins Herz. Sein Vater erscheint ebenfalls zum Gespräch und bittet uns freundlich, es uns auf der Terrasse gemütlich zu machen.

Am falschen Ort, zur falschen Zeit

Es folgt unter den Anwesenden ein Austausch der neuesten Nachrichten. Die Familie von Ayed*, meinem Übersetzer, der mich begleitet, wohnt ebenfalls in Arroub. Es wird frischer Minzentee ausgeschenkt, die letzten Zigaretten werden aufgeteilt. Ich frage ein letztes Mal besorgt, ob es ihn nicht störe, dass ich ihm Fragen stelle. Die Anwesenden lächeln: Natürlich nicht.

Letztes Jahr, im Oktober 2004, als er auf dem Weg zur Schule war, geriet Younes zufällig in einen Kampf zwischen jugendlichen palästinensischen «Steinwerfern» und israelischen Soldaten. Eine Soldatin rief ihm von weitem zu. Als er sich ihr näherte, beschimpfte und ohrfeigte sie ihn und schlug ihm mit dem Gewehrkolben in den Magen. Sie fragte ihn, warum er Steine auf sie geworfen habe. Younes antwortete, dass er keine Steine geworfen habe, sondern von zu Hause komme und sich auf dem Weg in die Schule befinde. Sie befahl ihm, stehen zu bleiben, und liess ihn drei Stunden am Rande der Hauptstrasse nach Hebron warten, bis ihr Chef endlich erschien. Dieser fesselte die Hände des Jungen auf dem Rücken, verband ihm die Augen und warf ihn, an der Kehle gepackt, in den Jeep. Während der Fahrt, die nach seiner Schätzung zwei Stunden gedauert haben musste, traten ihn Soldaten, die er nicht sehen konnte, mit den Füssen und schlugen ihn mit Gewehren. Wie viele Soldaten waren es? Younes meinte, sie seien etwa zu siebt gewesen; und es sei noch ein anderer gefesselter Schicksalsgenosse im Jeep gewesen.

Nachsinnend ergänzte er, er habe sich angesichts der langen Fahrt gewundert, dass man ihn nur bis zum Haftzentrum von Kyriat Arba in einer jüdischen Siedlung von Hebron gebracht habe, da dieses nicht weiter als fünf Kilometer vom Ort seiner Festnahme entfernt sei.

Zum Geständnis gezwungen

Im Gefängnis angekommen, stösst man Younes in einen Raum, setzt ihn auf einen Stuhl, die Hände immer noch hinter dem Rücken gefesselt, und drei Soldaten stellen ihm, gestresst und aggressiv, ohne Unterbruch Fragen, ihn damit vom einen zum andern jagend. Weil er bestreitet, Steine geworfen zu haben, schlagen sie ihn, drohen ihm, seine Familie zu quälen, seinen Bruder an seiner Stelle ins Gefängnis zu stecken. Wenn er nicht zugebe, Steine geworfen zu haben, werden sie ihn während sechs Jahren ins Gefängnis sperren. Er meint, dass die Einschüchterungen, die Beschimpfungen und die Schläge etwa eineinhalb Stunden gedauert haben. Die Soldaten haben ihn allein gelassen, «damit er überlegen könne». Vierundzwanzig Stunden nach seiner Festnahme lässt man ihn immer noch nicht schlafen. Um ihn einzuschüchtern und zu einem Geständnis zu zwingen, treten vier große und breitschultrige Soldaten in die Zelle, die ihn an Schwarzenegger erinnern.

Am Ende seiner Kräfte und seiner Hoffnung gesteht Younes schließlich, einen Stein geworfen zu haben. So hofft er, nach Hause gehen zu können, wie es ihm seine Peiniger versprochen haben. Dafür lässt man ihn ein Dokument unterzeichnen, welches er weder entziffern noch verstehen kann, weil es hebräisch geschrieben ist. Er denkt, er sei am Ende seiner Leiden angelangt. Doch dann transportiert ihn der israelische Sicherheitsdienst Shaback in das Haftzentrum von Etzion. Erst nach sechs Tagen Gefangenschaft bringt man ihn vor ein Gericht. Seine Familie ist da, Vater, Mutter und Geschwister sitzen am andern Ende des Saales. Doch ist es ihnen verboten, mit ihm zu sprechen, ihn zu berühren.

Younes, nun neben seinem Vater auf der Terrasse sitzend, lächelt diesen traurig an und fragt mich, ob ich noch etwas Tee wolle.

Nur wenige Minuten vor dem Prozess sieht er zum ersten Mal den von seiner Familie beauftragten Anwalt. Dieser erklärt ihm kurz und mit leiser Stimme, weil im selben Raum gerade ein anderer Fall verhandelt wird, dass er aufgrund seines Geständnisses angeklagt werde, mehr als vierzigmal Steine auf Soldaten geworfen zu haben und im Besitze eines Messers gewesen zu sein, um Soldaten zu verletzen. Das Urteil: drei Monate Gefängnis, eine Geldstrafe von eintausend Shekel und fünf Jahre Gefängnis auf Bewährung, während denen er das Flüchtlingslager nicht verlassen dürfe. Sollte er in dieser Zeit aus irgendeinem Grund wieder ertappt werden, bekommt er mindestens vier Monate Haft. Nach dem Prozess muss er noch neun Tage in Etzion bleiben. Insgesamt sind das siebzehn Tage.

Unschuldig im Gefängnis

Wie waren die Haftumstände? Wurdest du mit Jugendlichen, mit Erwachsenen zusammen eingesperrt? Wurdest du geschlagen, gefoltert? Bevor Younes übersetzt, mischt sich Ayed ein: «Dieses Gefängnis ist ein Alptraum.» Er selbst sei vor zwei Jahren während einiger Tage dort inhaftiert gewesen. Seine Wächter hätten nicht einmal seinen Namen gekannt, weil er in Hebron mit einer ganzen Gruppe von Männern festgenommen worden sei. Er habe nie gewusst, weshalb. Younes wiederholt: «Ein Alptraum. In einer Zelle, die so groß war?», und er zeigt auf die sechs Quadratmeter kleine Terrasse, auf der sie sitzen: «Darin waren siebzehn Personen gefangen, der größte Teil Erwachsene».

Wir konnten aus Platzgründen nicht liegend schlafen. Und es gab nur eine Decke für zwei Personen. Um zwei Uhr morgens wurden sie jeweils geweckt. Die Gefangenen, die nicht sofort aufstanden, wurden mit mehreren Tagen Einzelhaft bestraft. Sie durften nur zweimal pro Tag auf die Toilette, und das Essen, das sie abends und morgens erhielten, sei unbeschreiblich. Younes zieht eine Grimasse, als er daran denkt. Alle lachen: «Es ist wirklich furchtbar, was sie einem zu Essen geben», meint Ayed, «Man weiß nicht, was es ist.»

Der junge Mann fährt fort: Eines Tages habe ein Gefangener seinen Namen auf die Zellenmauer geschrieben. Als die Wächter dies entdeck haben, sind vier Soldaten in die Zelle gestürzt und haben willkürlich mit Schlagstöcken um sich geschlagen und die Gefangenen getreten. Ayed erklärt: «Kennst du diese Militärstiefel, mit einem Eisen vorne, um die Zehen zu schützen? Wenn du so einen in den Hintern bekommst, läufst du während Monaten wie eine Ente.» Allgemeines Gelächter. Der Cousin von Younes erklärt mir in gebrochenem Englisch: «So was ist üblich in Palästina, und wenn du derart geschlagen wirst und auf dem Boden liegst, fühlst du dich plötzlich frei wie nie zuvor, weil du weißt, dass nichts Schlimmeres mehr passieren kann.»

Gefesselt im Jeep

Stille auf der Terrasse. Jeder erinnert sich, so etwas schon einmal erlebt oder davon gehört zu haben. Ich wende mich an Younes und frage ihn, wie er in dieser Situation reagiert habe, ob er Angst gehabt habe. Die gute Laune kommt zurück, die drei Erwachsenen lachen und wechseln einige Wort auf Arabisch: «Dann schützest du deinen Kopf, so gut es geht, und wartest, bis sie genug haben und gehen».

Ayed fährt fort: «Doch dies ist nichts im Vergleich zu dem, was sie mit dir im Jeep machen. Das Innere des Wagens ist aus Eisen, und wenn sie dich schlagen, meint man, schlägt sogar das Auto zurück.» Nicken. Sie verstehen sich. Nach siebzehn Tagen in Etzion und vier Stunden im Jeep, in welchem er so gefesselt war, dass er weder Beine noch Arme bewegen kann, wird Younes in das Telmond-Gefängnis für junge Verbrecher in Tel Aviv gebracht. Der junge Mann ist glücklich, zwei andere palästinensische Jungen in der gleichen Situation zu treffen. «Dieses Gefängnis ist gegenüber Etzion ein Luxus», lächelt er, «man kann täglich zwei Stunden Luft schnappen.»

Zu seinem Vater gewandt, frage ich bedrückt: «Tel Aviv? Dann haben Sie ja gar kein Besuchsrecht gehabt?" Herr S. erklärt, er habe nicht einmal gewusst, dass sein Sohn ins Telmond-Gefängnis gebracht wurde, da niemand ihn benachrichtigt habe. Dank dem Anwalt, der sich bei den israelischen Behörden habe durchkämpfen können, habe die Familie erst erfahren, wo er sei. Der Vater wendet ein, er habe vergebens versucht, eine Erlaubnis für die Ausreise aus Palästina zu erhalten. Seine Frau sei vor Sorge um ihren Sohn krank geworden. Seine Augen füllen sich mit Tränen, bei dem Gedanken an jene drei Monate der Unwissenheit.

Fünf Jahre auf Bewährung

Schließlich, im Januar 2005, um acht Uhr morgens, kommen zwei Soldaten Younes in seiner Zelle abholen. Der Tag verläuft in Ungewissheit. Ungefähr stündlich erscheinen Soldaten und bringen ihn in eine andere Zelle. Sie schlagen und beschimpfen ihn. Abends um fünf Uhr endlich stösst man ihn in einen Jeep. Soldaten lassen ihn am Checkpoint von Tulkarem, das sich am andern Ende Palästinas, im Norden des Westjordaniens, aus dem Auto und behaupten, seine Familie werde ihn hier abholen. Doch die Familie wurde nicht benachrichtigt, Younes hatte keinen Shekel in der Tasche, um sie anzurufen. Und der Checkpoint ist um diese Zeit bereits gesperrt. Die Palästinenser vermeiden ihn abends, weil er ihnen angeblich Unglück bringe. Somit bleibt der Junge sich selbst überlassen und von israelischen Soldaten umgeben, die sich nicht um ihn kümmern.

Um zwanzig Uhr endlich findet der Junge ein Telefon. Seine Familie kann ihn abholen. Er ist frei! Seine Freunde haben Graffittis auf die Mauern seines Hauses gemalt: als Zeichen des Willkomms. Doch er ist weiterhin gefangen, im Flüchtlingslager von Arroub. Fünf Jahre auf Bewährung. Und wenn er heute von weitem Soldaten hört oder sieht, dann macht er einen grossen Umweg um sie herum.

Sandra Wuilloud *

* Die Autorin studierte an der Hochschule St. Gallen. Im Rahmen ihres Nachdiplomstudiums zum Executiv Master in Kinderrecht am Institut Kurt Bösch in Fribourg besuchte sie Palästina. Der vorliegende Bericht entstand während eines einmonatigen Aufenthalts im Juni 2005. Dabei besuchte sie die Organisation «Defense for Children International, Section Palestine» und arbeitete mit bei der Gestaltung der Konferenz «Kids Behind Bars», die in Bethlehem stattgefunden hatte. Sie betreute das Thema «Violation de la Convention relative aux droits de l'enfant. Les enfants palestiniens en détention». Dieser Text wurde, als Teil der zwölfseitigen juristischen Facharbeit von ihrem Tutorat akzeptiert. Er befindet sich in Französisch und Englisch unter http://www.childsrights.org/html/site_fr/index.php?c=act, unter dem Datum 17. August 2005, auf dem Internet.