Shehadeh, Raja: Wandern in Palästina

Seit mehr als fünfundzwanzig Jahren wandert der bekannte Schriftsteller («Fremd in Ramallah») und Menschenrechtsanwalt Raja Shehadeh durch seine Heimat Palästina, immer dann, wenn er Zeit hat oder Ruhe sucht. In sechs Wanderungen führt er uns durch die Schönheiten des Landes zwischen Jerusalem und dem Toten Meer und dessen Geschichte. Allmählich verwandeln sich in seinem Reisebericht die äusseren Landschaftsbilder jedoch in innere, umfassendere, ergänzt durch Erklärungen und Deutungen. Auf einer ersten Ebene, wie ich den Text lese, geht es ihm noch vornehmlich um Flora, Fauna und die Landschaften. Doch diese Bilder und Erlebnisse werden zunehmend beschädigt und zerstört durch das, was die Israelis dort mit ihren Checkpoints, der 700 Kilometer langen Mauer und den Apartheidstrassen gemacht haben. Auf einer zweiten Ebene durchwandert er die Region mit einem wissenden Blick in die Vergangenheit. So steht er vor einem modernen Naturpark und erklärt, dass hier einmal ein palästinensisches Dorf gestanden habe, sieht er am Horizont eine Hügelkuppe, die einst Wälder überzogen, wo jetzt jedoch jüdische 5000 Siedler leben. Weiter sehe ich in der Erzählung eine dritte Ebene, welche die Gegenwart in ein grösseres historisches Umfeld stellt und von dort aus beleuchtet: Wie die Israelis seit Nakba und Sechstagekrieg das Land fast täglich mit moralisch illegalen Gesetzen und Bulldozern verkleinern, und wie es unmöglich wird, hier je einen Staat Palästina aufzubauen. Gegen Schluss des Buches erzählt der Autor von der Begegnung mit einem orthodoxen Juden, mit dem er sich auf ein Gespräch einlässt: «Ich war mir völlig im Klaren über die sich abzeichnende Tragödie und den Krieg, die uns beiden bevorstanden, dem palästinensischen Araber und dem israelischen Juden. Aber jetzt konnten wir beide hier für eine kurze Atempause zusammensitzen, eine „nergila“(Wasserpfeife) rauchen, vorübergehend verbunden in unserer beiderseitigen Lieben zu diesem Land. In der Ferne waren Schüsse zu hören, die uns beide schaudern liessen.»

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Über Strecken spürt man bei Shehadeh eine ähnliche Haltung dem Land und den Menschen gegenüber wie bei Sumaya Farhat-Naser. Beide sind Liebende dieser Landschaft, Leidende am Schicksal ihres Volkes, Hoffende im Sinne eines «Credo, quia absurdum» (Ich glaube, weil es unvernünftig ist). Im Anhang des gut lesbaren Buches werden die arabischen Begriffe, die im Text verwendet wurden, erklärt. Schade bloss, dass eine geografische Karte mit den Orten, die erwandert wurden, fehlt. Dennoch: «Wanderungen in Palästina» vom Raja Shehadeh ist ein empfehlenswerter journalistischer Zugang zu dem, was einmal das Heiliges Land hiess.

Shehadeh, Raja: Wanderungen in Palästina. Unionsverlag, Zürich 2011, 250 Seiten