Für ein neues, globalisiertes Wir

Schweizerische Abstimmungen und weltweite Krisen der letzten Zeit wirken nachhaltig auf die ganze Gesellschaft und werden selbst nachhaltig bestimmt von einem Ereignis, das stattfindet, ob wir es wollen oder nicht, der Völkerwanderung des 21. Jahrhunderts. Eine weltweite Bewegung der Menschenströme von Süden nach Norden, von Osten nach Westen, von der dritten in die erste Welt – von der Armut in den Reichtum, vom Hunger in den Überfluss.

Unterbinden kann diese niemand. Sie ist der Ausdruck einer Emanzipation der Mehrheit von der Minderheit. Lediglich verdrängen oder verleugnen können wir sie, indem wir uns auf unsere Leben, unser Glück beschränken, uns auf die Vergangenheit fixieren, uns einigeln und den Kopf in den Sand stecken. Wenn wir uns jedoch dieser Herausforderung stellen, können wir sie im besten Fall in beschränktem Rahmen mitgestalten.

Die neue Völkerwanderung ist global not-wenig, mit ihr wird versucht, die Not des Grossteils der Menschheit zum Besseren zu wenden. Sie ist die Quittung einer Jahrhunderte langen Kolonialisierung, Missionierung, Usurpation – und der heutigen Globalisierung. Sie ist das offensichtlichste Zeichen dafür, dass der Kapitalismus und die so genannte freie Marktwirtschaft die grundsätzlichen Fragen, die der Mensch und die Welt heute stellen, nicht befriedigend beantworten können. Not herrscht unbestreitbar im grössten Teil der Welt. Nur auf kleinen Inseln, wie der unsrigen, gibt es Wohlstand und Überfluss – auf Kosten anderer. Wir profitieren vom Glück oder vom Zufall, auf der Speckseite dieser Erde geboren worden zu sein.

Globalisiert wie in der Wirtschaft

Unsere Wirtschaft funktioniert nur noch globalisiert, hören wir täglich von den Vertretern der Wirtschaft und der Banken. Das haben uns auch in den letzten Jahrzehnten auch «Wirtschaftswissenschaftler» eingebläut. Wir holen beispielsweise unsere Nahrungsmittel aus den Ländern, in denen sie am billigsten zu haben sind, auch wenn dadurch das Ökosystem kaputt geht. Wir verbilligen den Flugverkehr, auch wenn damit Fluggesellschaften Bankrott gehen. Der Staat und die Ökologie sind die Leidtragenden. Wir retten zwar das Bank- und Finanzwesen, selbst wenn in der Folge auch noch das Sozialwesen kollabiert.

Gleichgewicht und Ausgleich gibt es in der Physik und in der Chemie – und in der Geschichte. Dass von dort, wo es (zu) viele Güter gibt, wo Überfluss herrscht, weggenommen wird und dorthin, wo es (zu) wenig davon gibt, wo Mangel herrscht, verschoben wird, ist logisch, psychologisch, selbstverständlich. Geschichtlich funktionierte dies «normalerweise» in Kriegen, heute und in Zukunft mit dem weltweit agierenden Terror, dieser neuen Form des alten Krieges, gegen den auch die «beste Armee der Welt», wie Bundesrat Ueli Mauer dem Volk eine verspricht, die Schweiz in keiner Weise schützen kann.

Dass Krieg und Terror Menschen töten und unendliches Leid bringen, erleben wir täglich durch die Medien. Direkt bei einem konventionellen Krieg, indirekt beispielsweise wenn wir der Dritten Welt die fürs Überleben wichtige Medikamente vorenthalten oder den Zugang zu den für die Kommunikation notwendigen Informationsnetzen verunmöglichen. Es ist also für unser aller Leben nicht mehr als vernünftig, das Problem der Völkerwanderung lösen zu versuchen. «Alles Leben ist Problemlösen», meint Karl Popper. Doch wie machen wir dies?

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Schluss mit dem alten egoistischen Wir

Mir scheint der Kern des anstehenden Problems beginnt beim kleinen Wörtchen «Wir». Die Menschen gehen im kleinen Alltag und in der grossen Politik meist von einem falschen Wir aus. Was heisst dieses Wir? Angesicht der neuen, globalisierten Welt gilt es, auch dieses Wir neu zu definieren zu globalisieren. Es darf heute nicht mehr das alte egoistische Wir der abgeschlossenen trauten Familie, der fein säuberlich geordneten Gemeinde, der im Allgemeinen funktionierenden Schweiz sein.

Es bedarf ein neues, durch die Globalisierung ausgeweitetes, humanes und solidarisches, ein altruistisches Wir. Denn wir sind immer eingebunden in ein Ganzes, in die eine Welt – so wie in der Wirtschaft. Begründen können wir dies mit dem Gebot der Nächstenliebe, mit den Gesetzestafeln von Moses, mit Mohammeds Versen, dem Kategorischen Imperativ, den Postulaten der Französischen Revolution, der Brüderlichkeit des Sozialismus, der Solidarität des Existenzialismus oder mit den Allgemeinen Menschenrechten.

Es ist nicht nur eine Frage für Gutmenschen, sondern des materiellen und ökologischen Überlebens aller, der Menschheit. Das «Immer-Mehr für sich» des Kapitalismus und der so genannten freien Marktwirtschaft führt unweigerlich in den Abgrund: in der Umwelt- und in der Innenweltzerstörung.