Politik braucht ganze Menschen ganz

In der Politik handeln Parteien oft so, als ob sie allein richtig hätten, die andern immer falsch lägen. In der heissen Phase eines Wahl- oder Abstimmungskampfes ist dies tolerierbar. Doch in der Zwischenzeit, im politischen Alltag, sollte jede Partei die andern respektieren und ernst nehmen, sonst geht Demokratie Bankrott. Weil jede Partei eine Menschengruppe vertritt, die andern auch die Wahrheit für sich beanspruchen können und schliesslich jede Partei von den andern profitieren kann.

Persönlichkeiten konstituieren sich, wie ich meine, weniger aus dem Willen, vielmehr aus den lebenslang gemachten Erfahrungen. Und das persönliche Handeln kommt, wie ich ebenfalls meine, zuerst aus dem Glauben, erst dann aus dem Wissen. Mit diesen beiden Annahmen möchte ich dem nachgehen, was politische Persönlichkeiten und deren Handlungen konstituiert.

Alles, was Menschen tun und lassen, hat Gründe, meist emotionale, die in der Persönlichkeit liegen, die vor allem mit den Erfahrungen aus der Kindheit und Jugend gespeist wurden. Man macht, was man weiss, und weiss, was man glaubt. Das meist Unbewusste, Geglaubte prägt nach Sigmund Freud das Fühlen, Denken und Handeln: im Privaten und, da die Gesellschaft aus Individuen besteht, vermutlich auch im Politischen.

Solidarität und Nächstenliebe

Einer der Motoren, welcher Menschen immer wieder zu Grossem motiviert, ist die Solidarität, die Nächstenliebe, der Altruismus, die, wenn man nachfragt, zwar sehr verschieden begründet werden. Meist christlich: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Oder existentialistisch: Das Leben bekommt erst Sinn durch meine Tat. Manchmal auch mit der Trias Liberté, Égalité et Fraternité. Dass diese Ideen, wenn sie zu Ideologien verkommen, auch Leid anrichten, belegt die Geschichte. Doch wenn diese Haltung seit Jahrhunderten im Privaten mehrheitlich Gutes bewirkt hat, muss sie wohl auch heute und für die Politik richtig sein. Es braucht Menschen und Parteien, die diese Haltung der Solidarität engagiert vertreten.

Neugier und Vorwärts

Eine weitere Kraft, die Menschen antreibt, ist die Neugier. Ohne sie gäbe es keinen Fortschritt, was bei Kleinkindern zu beobachten ist, wenn sie, versuchend und irrend, die Umwelt entdecken und schliesslich für sich erschaffen. Jedes Lernen fusst auf dieser Gier nach Neuem, ohne welche unsere Welt nicht wäre, was sie heute ist. Forschung gründet, wie Henri Bergson meint, auf dem Élan vital, der Kraft, die Kultur als Technik, Wissenschaft und Kunst erst schafft. Wie der Fortschritt von Krankheiten jedoch zeigt, kann Fortschritt auch negativ wirken. Doch wenn Neugier sich individuell meist positiv äussert, gehört auch sie in die Politik. Es braucht Menschen für die kleinen Kreise, aber auch für die grossen, die Parteien, welche diese Vorwärts-Haltung mit Hingabe leben.

Angst und Sorge

Ein dritter Grund für die menschliche und gesellschaftliche Entwicklung dürfte die Angst sein. Schon die Höhlenbewohner überlebten nur dank ihrer Angst vor der gefährlichen Umwelt. Ohne diese Angst und dem entsprechenden Handeln gäbe es auch mehr Unglück und Leid. Es sind denn die mütterlichen und väterlichen Menschen, die sich für das Wohl ihrer Kinder und anderer Menschen ängstigen und zur Vorsicht mahnen, getrieben von ihrer, wie Martin Heidegger sagt, «Sorge um den Menschen», obwohl auch Angst pathologisieren kann. Doch grundsätzlich muss Angst auch in der Politik eine Rolle spielen. Der Staat braucht Menschen und Parteien, die sich für diese Haltung engagieren, die Angst haben.

Natur, Kirche und Opern

Wer als Kind mit dem Vater bei Bergwanderungen glücklich war, wird sich sein Leben lang in den Bergen oder anderswo in der Natur glücklich fühlen. Und wenn später die Politik Fragen zur Natur stellt, bestimmt die frühe Programmierung seine Antworten. – Wer in einer religiösen Familie aufgewachsen ist, wo Kirche, Moral und Caritas das Fundament bildeten, lässt sich auch als Erwachsener in der Politik von diesen Werten ansprechen und zum Handeln bewegen. – Und wer schliesslich seine Jugend im Umfeld eines gehobenen Bürgertums mit Theater und Konzerten, mit viel Geld und Besitz erlebt hat, wird diese Erfahrungen, die zu Sparen, Leistung und Erfolg in Bezug gesetzt werden, künftig auch in der Politik vehement vertreten.

Divergieren und polarisieren

All diese – und weitere – individuelle Grundbefindlichkeiten wirken, ob man es merkt oder nicht, auf das politische Handeln, sollen es auch, voll und ganz, da die Gesellschaft sie auch braucht. Diese Haltungen und Werte, diese Menschen- und Weltbilder müssen eingebracht werden, auch wenn sie in verschiedene, ja diametral entgegen gesetzte Richtungen weisen und polarisieren. Individuell gelingt der Aufbau der Einzelpersönlichkeit umso besser, je erfolgreicher die verschiedenen, auseinander strebenden Kräfte zu etwas Komplexem, Neuem gebündelt werden. Verlangt wird auch heute nicht der «eindimensionale Mensch», den schon Herbert Marcuse kritisierte, sondern der mehrdimensionale, der ganze Mensch.

Pluralismus und Konvergenz

In der Politik haben die Parteien mit ihrer Verschiedenartigkeit eine neue Einheit und Ganzheit zu bilden. Wie jedoch gerade in den letzten Jahren offenbar wurde, hat jede die Tendenz, sich als die einzige «Wahrheit» zu sehen, sich zu monopolisieren. In diesem «Mono» aber steckt, wie Al Imfeld mahnt, eine Gefahr, ja eine Tendenz zum Faschismus. Doch wenn die Individuen erst glücklich werden, wenn sie verschiedene Identitäten in Einklang bringen, wird es wohl auch in der Politik nicht anders sein. Wenn die Gesellschaft eine Gemeinschaft werden soll, dann sind alle Gefühle, Haltungen und Grundbefindlichkeiten, alle Welt- und Menschenbilder der Bürgerinnen und Bürger – und all ihre Parteien – notwendig. Das Progressive braucht das Konservative, die leidenschaftliche Solidarität den gesunden Eigennutz, das Bürgertum die Arbeiterschaft und umgekehrt. Damit sei keiner Unverbindlichkeit das Wort geredet, sondern einem engagierter Pluralismus, ganz im Sinne Voltaires, der schrieb: «Ich hasse Ihre Ideen, aber ich würde mich dafür töten lassen, dass Sie das Recht haben, sie frei auszusprechen». Auch wenn solches nie umfassend erreicht wird, zeigt der Wegweiser «Miteinander», wie wir persönlich im Sinne des «Homo viator» von Gabriel Marcel, auf den Weg, den wir gehen müssen und können.

Dialog und Taten

Es braucht sie alle: die SP und die SVP, die CVP, die GP, die FDP usw. Und es wäre ein Verlust, wenn eine fehlte. Doch wenn die Parteien sich zu keinem vernünftigen Miteinander durchringen, bleibt Politik, wie leider weltweit immer wieder zu beobachten, destruktiv und schafft Streit, Zerstörung und Krieg. Wenn Politik aber als Miteinander-Sprechen und Miteinander-Gehen verstanden wird, kann sie konstruktiv werden, öffentliche und private Gespräche initiieren, die zu Taten führen: zu dem von Martin Buber postulierten «Dialog als Fundament jeder Bildung und Kultur» und der von Jürgen Habermas kürzlich geforderten «politisch verfassten Weltgesellschaft».

Das Ziel ist die Wahrheit

Letztendlich geht es individuell wie politisch beim Werden des Menschen, des Menschlichen, um die Wahrheit. Und dazu hat mich ein Satz des Sufimeister Dschaelal ed-din Rumi aus dem 13. Jahrhundert grossen Eindruck gemacht: «Die Wahrheit ist ein Spiegel, der vom Himmel gefallen ist, er ist in tausend Stücke zersplittert, jeder besitzt einen kleinen Splitter und glaubt, die ganze Wahrheit zu besitzen.» Oder ein Satz, der gegen Ende des letzten Buches «War meine Zeit meine Zeit» von Hugo Loetscher steht: «Ist nicht jedes Land im gleichen Sinn bloss eine Möglichkeit von Nation? Und die Religion: Ist nicht jedes Credo nur ein Credo neben andern? Wenn es also darum geht, den Menschen in all seinen Möglichkeiten zu kennen, wird der andere nicht jemand, den ich toleriere, sondern jemand, den ich unerlässlich und unverzichtbar im Zeichen eines umfassenden Menschsein brauche: Ich bin erst dank seiner und aller andern ein kompletter Mensch.» So schreibt Hugo Loetscher gegen Ende seines letzten Buches «War meine Zeit meine Zeit»