«Die einfachen Dinge» von Judith Giovannelli-Blocher

Worauf es im Leben ankommt

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(Foto Heini Stucki)

Viele Menschen erleben die heutige Welt als beängstigend, weil wichtige Werte der bürgerlichen Gemeinschaft zu verschwinden scheinen: soziale Verantwortung, Rücksicht, Fairness, Solidarität und Mitleid. Das neue Buch von Judith Giovannelli-Blocher – nach «Das Glück der späten Jahre. Mein Plädoyer für das Alter» (2004) und «Woran wir wachsen. Erfahrungen eines Lebens» (2007) – zeigt, wie aus eigenen Lebenserfahrungen Zuversicht und Gelassenheit gegenüber den Zumutungen einer sozial erkalteten Welt erwachsen kann.

Die Autorin wurde 1932 geboren, wuchs als zweitälteste von elf Geschwistern in einem Pfarrhaus in Laufen am Rheinfall aus. Sie absolvierte eine Ausbildung als Sozialarbeiterin, war Abteilungsleiterin der Fachhochschule für Sozialarbei in Bern sowie freiberufliche Organisationsberaterin, Supervisorin und viele Jahre lang Leiterin von Kursen zum Thema Älterwerden. Ihr Einsatz für eine humane Flüchtlings- und Ausländerpolitik führte zu öffentlichen Auseinandersetzungen mit Bruder und alt Bundrat Christoph Blocher und sorgte immer wieder für Schlagzeilen. Heute lebt sie als Schriftstellerin in Biel.

Für eine ehemalige Dozentin einer Hochschule für Sozialarbeit erstaunlich und erfreulich, wie frei von wissenschaftlichem Ballast und wie lesbar und verständlich sie schreibt. Sie überzeugt durch ihre Lebenserfahrung und lädt uns ein, die Menschen um uns, die Begegnungen und Erlebnisse mit diesen ebenfalls als Impuls, Motivation und Erfahrungsschatz zu nehmen für eigenes Wahrnehmen, Reflektieren und Handeln in einer immer komplizierter werdenden Welt.

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Die Geschichten, die sie erzählt, handeln von Begegnungen und Freundschaften, von Verantwortung gegenüber Mitmenschen und von Familiensinn. Sie beschreiben die Verunsicherung gegenüber Fremden, aber auch die Fähigkeit, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Sie handelt vom Umgang mit dem Alter und vom würdigen Sterben. Ein starkes und lebensnahes Buch, das Mut macht und die Gültigkeit grundlegender Werte neu erschliesst. Einige der beschriebenen Situationen und Menschen dürften die Autorin ganz besonders berührt haben. Etwa das Leben und Sterben von Charlotte, einer Frau mit unerschöpflicher Lebenskraft bis zum Ende. Oder der komplizierte Weg des Herrn O. aus der ehemaligen DDR, der in diesem teuflischen System zermalmt wurde. Ebenso die Begegnung mit Irmgard, einer psychisch kranken, jedoch eigenständigen, zum Leben begabten und Gesundheit verbreitenden Frau. Oder die sozialarbeiterische Arbeit mit dem Mädchen Rosi, die lang dauerte und wahrscheinlich dennoch erfolglos war. Sowie die verschiedene Begegnungen mit dem politischen Philosophen Konrad Farner, dem engagierten Sucher. Diese Geschichten berührten mich und, so vermute ich, viele andere auch. Man bekommt bei der Lektüre das Gefühl, in den Texten diesen Männern und Frauen und in ihnen dem Leben selbst zu begegnen.

Einen besonderen Stellenwert nimmt das Kapitel «Modernes Alter und alte Moden» ein, in welchem sie, wiederum an persönlichen Begegnungen, nicht an Theorien dargestellt, vielfältige Möglichkeiten des Alterns in unserer Gesellschaft schildert: einfühlsam und differenziert, vielfältig und widersprüchlich. Der Satz einer alten Bäuerin hat sie dabei vor allem berührt und dürfte auch uns nach lange in Erinnerung bleiben: «Me mues Sorg ha zunenand.» Die 78-jährige Judith Giovannelli-Blocher macht in diesem Buch vorbildlich, was heute landauf landab in der Sozialen Arbeit und in der Schule vehement fordern: Weniger Theorie, mehr Praxis; den Alltag des gewöhnlichen Lebens ernst zu nehmen; bei der Begegnung mit den Menschen die Antworten suchen, die einem das Leben stellt.

Judith Giovannelli-Blocher: Die einfachen Dinge. Worauf es im Leben ankommt. Nagel &  Kimche Verlag, Zürich 2010, 160 Seiten.