Albert Camus: Dem Leben einen Sinn geben
Grosse Werke der Weltliteratur beantworten Fragen nach dem Sinn des Lebens, die auch in der Sozialen Arbeit immer mal gestellt werden. Die Bibel, der Koran und die Thora geben Antworten. Aber auch Dante, Cervantes, Goethe, Dostojewski und andere. Mit der Darstellung des In-der-Welt-Seins und -Handelns im Essay «Der Mythos von Sisyphos» und im Roman «Die Pest» dürfte Albert Camus vielen, die mit Menschen arbeiten, etwas bedeuten.
«Der Mythos von Sisyphos»: Die Welt ist absurd
«Das Gefühl der Absurdität kann einen beliebigen Menschen an einer beliebigen Strassenecke anspringen… Ich weiss nicht, ob diese Welt einen Sinn hat, der über mich hinausgeht. Aber ich weiss, dass ich diesen Sinn nicht kenne und dass ich ihn zunächst unmöglich erkennen kann.» Für Agnostiker, die nicht wissen, ob Gott existiert, und Atheisten, die Gott leugnen, können diese Sätze des Philosophen Camus als Grundannahme dienen.
Dieses Fundament kann ein neuer Denkansatz werden. «Das Absurde ist die erhellte Vernunft, die ihre Grenzen feststellt. Aber nach der Begegnung mit dem Absurden ist alles erschüttert» in dieser «Welt von Tränen und Trauer» («Les justes») und des Absurden. «Wer sich dem Schicksal dieser Welt verbunden fühlt, für den hat die Erschütterung der Zivilisationen etwas Beängstigendes. Ich habe diese Angst in demselben Augenblick zu der meinen gemacht, da ich mich mit der Welt eingelassen habe.» Soziale Arbeit und die meisten anständigen Berufe lassen sich darauf ein.
Von diesem Absurden leite ich «drei Schlussfolgerungen ab: meine Auflehnung, meine Freiheit und meine Leidenschaft… Sein Leben, seine Auflehnung und seine Freiheit so stark wie möglich empfinden – das heisst: so intensiv wie möglich leben.» Absurdität kann Leidenschaft und diese Engagement wecken. «Ist die Absurdität erst einmal erkannt, dann wird sie zur Leidenschaft, zur herzzerreissendsten aller Leidenschaften… Es kommt immer eine Zeit, in der man zwischen dem Zuschauen und der Tat zu wählen hat. Das heisst: ein Menschen werden.»
«Die Pest»: Arzt-Sein als Antwort
Im Roman «Die Pest» schildert der Dichter Camus den Verlauf einer Pestseuche im algerischen Oran aus der Sicht des Arztes Dr. Bernard Rieux. Sie beginnt mit einigen toten Ratten, gefolgt von einzelten unerklärlichen menschlichen Todesfällen. Dann weitet sie sich zur Epidemie aus, die die Stadt in einen Ausnahmezustand versetzt, von der Aussenwelt abschottet und schliesslich viele tausend Todesopfer fordert. Die Pest bedroht das menschliche Dasein, wird dessen fundamentaler Feind.
Das Buch ist zutiefst eine metaphysische Parabel über den Widerstand des Menschen gegen physische und moralische Zerstörung, eine Auseinandersetzung mit der Absurdität der menschlichen Existenz, auf den Punkt gebracht im Diktum «Solitaire et solidaire» in seinem posthum erschienenen Werk «Le premier homme».
Der Arzt beobachtet den Verlauf der Pest, kämpft mit seinen Mitteln gegen sie an. Er macht Diagnosen, verordnet Therapien, analysiert die Entwicklung und erklärt sie den Bewohnern. Er verordnet Massnahmen, berät Angehörige, bleibt bei Einsamen. Er hält seine Angst aus und hilft andern dabei, arbeitet unter Todesgefahr, begräbt Tote und tröstet Überlebende. Er lehrt ihnen, sich gegenseitig zu helfen, sich zu lieben, auch wenn es für sie keine Zukunft gibt.
Vor dem Pflegen und Heilen muss der Arzt, die Sozialarbeiterin, der Lehrer und müssen alle andern die Absurdität erkennen und akzeptieren. Erst dann wird Sinn möglich. «Zusammen lieben oder sterben, ein anderes Hilfsmittel gibt es nicht… Aber vielleicht müssen wir lieben, was wir nicht verstehen… Sich bemühen, Ärzte zu sein.» Die Existenzform «Arzt», wie Rieux sie lebt, kann wohl auch für Menschen in sozialen und verwandten Berufen Vorbild sein. Denn alle Tätigkeiten des Arztes sind auch Tätigkeiten in der Sozialen Arbeit, der Erziehung usw., ja selbst in der Politik.
Damit spannt der Dichter-Philosoph und Humanist den Bogen vom Absurden, das er akzeptiert, über die Revolte, die er praktiziert, zu einem neuen Humanismus mit den Werten Solidarität, Freundschaft und Liebe. Er gibt Antworten angesichts der Absurdität und ohne die Tröstungen der Religion. Seine Revolte heisst, zum Unabwendbaren ja sagen und dann weiter leben und handeln, mit einer Freude, die einen erstaunt: «Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.»
Albert Camus, Le mythe de Sisyphe, 1942, Der Mythos von Sisyphos, Rowohlt, 2008
Albert Camus; La peste, 1947, Die Pest, Rowohlt, 2008, Suhrkamp, Düsseldorf, 1982