Kunst und Sozialarbeit
Die
aktuelle Ausstellung «expressiv!» in der Fondation Beyeler
veranschaulicht, welchen Gewinn die Kunst für die Soziale Arbeit
sein kann. Heute entwickelt sich die Soziale Arbeit hin zu einer
Wissenschaft, weg vom Menschen, hin zur Theorie, weg von der Emotion,
hin zum Intellekt. In dieser Situation dürfte Gegensteuer Sinn
machen. Dazu bieten sich die bildende Kunst, aber auch Literatur und
Film an. Kunst zeigt Menschen, genauer Bilder von Menschen, und
Gefühle, genauer Bilder von Gefühlen. Und diese Bilder
können – als Abbilder, Vorbilder und Sinnbilder – ein
Gewinn sein, auch für Menschen, die sozialarbeiterisch tätig
sind.
Botschaften…
Die
folgende Betrachtung folgt zum Teil den Ausstellungsunterlagen:
Expression als Aufschrei der Seele gegen die Mechanisierung des Lebens
zieht sich wie ein roter Faden, ja eine rote Narbe durch die
Kunstgeschichte. Schon El Greco vertritt mit den eigenwilligen
Überdehnungen der Körper eine unmittelbar berührende
Malerei, die Leid und Freude direkt erleben lässt. James Ensor
thematisiert mit seinen Maskenbildern die Trennung zwischen den Mensch
und Umwelt, bis wir fragen: Ist die Wirklichkeit hinter oder ist sie
vor der Maske? Im Gemälde «Mann und Frau» beschreibt
Edvard Munch in jedem Quadratzentimeter des Bildes die traurige
Unvereinbarkeit der beiden. Was er mit seinen Frauenbildern über
die Geschlechtlichkeit aussagt, sind höchst persönliche
Berichte aus den Tiefen eigenen Empfindens. Vortrefflich gelingen ihm
als Erweiterung der Porträts auch seine «Paysages
d’âmes».
… der Abbilder
Ferdinand
Hodler folgt mit verschiedenen Werken den Stationen des Verfalls seiner
krebskranken Geliebten vom Krankenlager über den
Dämmerzustand bis zum Totenbett und versucht, das Erlebte malend
zu verarbeiten. Emil Nolde zeigt „Im Nachtcafé“ das
Leben in Schminke und Schmutz und lotet die Tiefen der verletzten Moral
aus. Egon Schiele vertieft sich in der Darstellung des Sexuellen.
Picasso, der Zeit seines Lebens nie Menschen abgebildet, sondern stets
neu geschaffen hat, leuchtet deren Erotik aus, frech und schamlos wie
in «Le baiser».
… Vorbilder
Die
Grausamkeit und das Leid des Krieges spiegelt sich in vielfältigen
Formen. Bei Max Beckmann und Otto Dix sind die Bilder nur aus dem
Unterbewusstsein, mit der Psychoanalyse, der grossen Errungenschaft des
letzten Jahrhunderts, zu verstehen. Eine gültige Chiffre aller
Kriege gelang Picasso mit «Guernica». In der Formsprache
der Postmoderne beschreibt Markus Lüpertz Ähnliches in vier
Kriegsbildern.
… und Sinnbilder
Irgendwann
sprengt die Expression des Bildes – wie im Leben auch – die
Form, die Form den Inhalt und kommt es zum Vulkanausbruch,
kunstgeschichtlich, zum abstrakten Expressionismus. Oder die Malerei
kippt hinüber in den Traum, in den Surrealismus. Vielleicht auch
ins Verstummen, in die reine Innerlichkeit wie in Mark Rothkos
Räumen. – All dies sind Antworten auf die emotionalen
Erschütterungen.
Francis
Bacon sorgt für eine weitere Provokation, schlägt uns mit der
Faust ins Gesicht. Der expressive Schrei gegen die Welt wird bei ihm
zur existentiellen Verzweiflungstat, zur Zerstörung und
Selbstzerstörung angesichts des In-die-Welt-Geworfen-Seins, der
Absurdität, wie Camus und Beckett sie mit Worten beschreiben.
Ähnlich schildern Jean-Michel Basquiat und Francesco Clemente mit
zeitgenössischen Chiffren ihre Wirklichkeit. Oder begleitet Rainer
Fetting mit van Gogh den Menschen an die Grenze des Wahnsinns. Bei
Bruce Nauman dreht sich in seiner Videoinstallation ein kahl rasierter
Kopf und ruft immerfort den gleichen Text: «Feed me, eat me,
antropolgy» und «Help me, hurt me, sociology» in den
dunklen Raum.
Und der mögliche Gewinn für die Soziale Arbeit
Fürs
Erste gilt, dass wir beim Betrachten von Kunst – oder Film, oder
Literatur – probehandelnd fremde Menschenleben durchleben. Allein
dieses wiederholte Umstellen auf immer neue Geschichten ist ein Gewinn.
Es macht beweglich, wir üben, uns empathisch auf andere
einzulassen.
Dies kann
den Horizont erweitern, wir erleben, dass es das und das und das auch
noch gibt zwischen Himmel und Erde. Unser Bewusstsein erweitert sich.
Ohne dieses Umschalten droht Einseitigkeit, Eindimensionalität.
Jetzt
können wir üben, auf diese emotionalen Expressionen zu
reagieren, uns sensibilisieren und entscheiden, wie weit wir uns hinein
geben wollen. Wir erleben, wie viel Übertragungen dabei mitspielt.
So wird
dies zum Gegenmittel gegen den Glauben, dass die Wissenschaften
für alle Fragen des Sozialen eine Antwort hat, auf alle
Bedürfnisse adäquat einzugehen vermag. Wissenschaft schafft
Wissen; doch Kunst schafft Können. Und um das Leben meistern zu
helfen, was Soziale Arbeit doch versucht, braucht es keine
Lebens-Wissenschaftler, sondern Lebenskünstler.
Alle, die in der Sozialen Arbeit tätig sind, lade ich ein, sich auf die Bilder, die die Welt bedeuten, einzulassen, darin zu verweilen, sich damit auseinander zu setzen und daran zu reifen für den Beruf. Es lohnt sich. (Die Ausstellung in Riehen dauert bis zum 10. August 2003. Weitere Informationen www.beyeler.com.)