Max Frisch: Schwarzes Quadrat

1981 hielt Max Frisch am City College of New York zwei Vorlesungen, die vor Kurzem in deutscher Übersetzung erschienen sind. Sie laden ein zu einer Reise durch das Werk des Schriftstellers – aber auch zur Standortbestimmung von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern, ihre Sprache, ihr Denken, Fühlen und Handeln neu wahrzunehmen und zu hinterfragen.

Schreiben wollen und müssen

«Ich habe keine Theorie… Ich habe auch kein Rezept.» Mit diesen Feststellungen motiviert Max Frisch zum «Vivere periculosamente», ruft auf, sich der Wirklichkeit zu stellen. Angesichts der persönlichen Grenzen indes akzeptiert er auch ein «Schreiben als Notwehr gegen die Erfahrung der Ohnmacht» oder ein «Schreiben als Therapie für das schreibende Subjekt». Solche Kühnheit und Bescheidenheit ist der Sozialen Arbeit nicht fremd: im Alltag für andere mutig sein, ohne sich selbst zu überfordern. Dieser Sprung ins Offene verleiht der Kunst und der Sozialen Arbeit Grösse.

Sprache als Seismograph

Sprache dient nicht nur dem Schriftsteller, sondern allen, die lehren, bilden, erziehen, führen, begleiten, unterstützen und helfen. Auch für sie gilt, was Frisch für sich postuliert, wenn er fragt, was die Sprache kann und was nicht: «Die Sprache ist wie ein Meissel, der alles weghaut, was nicht Geheimnis ist, (…) alles Sagen bedeutet ein Entfernen.» Die Sprache kann das Wesentliche nicht erfassen, räumt jedoch das Unwesentliche weg, bis das Geheimnis sich offenbart. Aufs Handwerk hinunter gebrochen heisst das: «Man hält die Feder hin, wie eine Nadel in der Erdbebenwarte, und eigentlich sind nicht wir es, die schreiben; sondern wir werden geschrieben.» Wer als Erzieherin oder als Sozialarbeiter nicht ab und zu bis zu diesem Unbegreiflichen vorstösst, hat wenig begriffen von diesen schönen Berufen.

Die Erfahrung des Wahns

Nicht nur in der Kunst, auch im Sozialen und in jedem bewusst gelebten Leben stellt sich die Frage nach der Wahrheit, auch wenn heute nur selten davon gesprochen wird. Max Frisch tut es: «Die Wahrheit kann man nicht beschreiben, nur erfinden… Ich habe keine Sprache für die Wirklichkeit… Ich probiere Geschichten an wie Kleider.» Und er kommt zum Kern der Frage: «Die Wahrheit ist (…) ein Riss durch die Welt unseres Wahns: eine Erfahrung.» Was wir finden, ist nicht die Wahrheit, sondern ein Wahn. Sind die Geschichten, die uns im Alltag vorgesetzt werden, die Kleider zum Anprobieren, lediglich Wahnvorstellungen? Sie sind es. Und sie sind uns aufgetragen als Aufgaben: «Die Lösung ist immer unsere Sache, meine Sache, eure Sache.» Kein Werk, weder das künstlerische, noch das soziale, gibt die Antworten. Wir haben sie zu beantworten, zum Happy End zu bringen.

Glück oder Schrecken

Zur Aufgabe der Poesie meint Frisch: «Die Poesie ist der Durchbruch zur genuinen Erfahrung unserer menschlichen Existenz in ihrer geschichtlichen Bedingheit.» Damit geht er aufs Ganze und misst ihr einen Wert zu: «Sie befreit uns zur Spontaneität – was beides sein kann: Glück oder Schrecken.» Damit spricht er auch Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter an. Poesie und Soziale Arbeit führen zur Ganzheit der menschlichen Existenz, zum Menschen in seiner ganzen «Conditio humana». Und die politische Dimension der Poesie, der Sozialen Arbeit? Seine Antwort: «Die Poesie unterwandert unser ideologisiertes Bewusstsein und insofern ist sie subversiv in jedem gesellschaftlichen System.» Mehr Herausforderung ist kaum möglich.

Von der Trauer zur Utopie

Was Frisch abschliessend von der Poesie sagt, würde zum Eid der Sozialen Arbeit gehören, gäbe es einen solchen: «Die Poesie findet sich nicht ab mit dem Machbaren; sie kann nicht lassen von der Trauer, dass das Menschsein auf dieser Erde nicht anders ist.» Diese Trauer kann im Beruf zu Mitleid, das Mitleid zu Anteilnahme und Anteilnahme zum Handeln führen. «Die Poesie sagt nicht, wohin mit dem Atom-Müll.» Tut auch die Soziale Arbeit nicht. «Die Poesie wahrt die Utopie.» Ebenso wie die Soziale Arbeit. Von dieser an den konkreten Fall gebundene Trauer ins Offene, in die ortlose Utopie: das aber ist der Weg, so glaube ich, der zu gehen ist.

Max Frisch: Schwarzes Quadrat, Vorwort Daniel de Vin, Nachwort Peter Bichsel, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008, 92 Seiten, ISBN 978-3-518-41999-1. Alle Zitate stammen aus diesem empfehlenswerten, herausfordernden kleinen Bändchen.

 

 

 

Weitere herausfordernde Denkanstösse des Autors enthält der Dokumentarfilm «Max Frisch, Citoyen» von Matthias von Gunten, aus dem das Bild stammt. Im Bildvordergrund Frisch, im Hintergrund Berlin. Film-Verleih: www.looknow.ch, DVD-Kauf: www.artfilm.ch.