Vom So-Sein sozialer Welten

Kunst ist Alltag, nur bewusster: das, was wir im (privaten und beruflichen) Alltag leben. Sie zeigt nichts Anderes, dieses nur anders – ähnlich wie das Mikroskop die Zelle, das Teleskop die Sterne. Mit Blick auf die Soziale Arbeit soll dies an der Ausstellung "me & more", bis 23. 11. im Kunstmuseum Luzern, und "Paul Klee: Die Erfüllung im Spätwerk", bis 9. 11. in der Fondation Beyeler in Riehen, illustriert werden.

Formen des Seins im Alltag

"Puppet", eine weisse, fast lebensgrosse Marionette der Amerikanerin Kiki Smith, empfängt uns, an der Diele hängend, und löst Gefühle der Abhängigkeit und des "Geworfen-Seins" aus. Als Metapher für das Mensch-Sein generell ihrem Schöpfer und Lenker als "Frankensteinsches Flickwerk" willenlos ausgeliefert. Wenn ich länger davor stehen, spüre ich es fast körperlich: So ist das Leben, die Absurdität des Lebens, wie wir es vom Privat- und Berufsleben her kennen. Oft verdrängen wir dies, gelegentlich halten wir es aus - als "glücklicher Sisiphos" (Albert Camus).

Der Brite Antony Gormley hat in einem grossen Saal zigtausende von Terracottafigürchen aufstellen lassen, die mich anschauen, deren Einzelidentitäten zur anonymen Masse verschmelzen. Geschockt stehe ich ihnen gegenüber: Ich bin gefordert, zu re-agiren, zu ant-worten, sie zu ver-antworten. Botschaften wie aus "Masse und Macht" (Elias Canetti) fallen mir ein. Klein und unbedeutend fühle ich mich, wenn ich die Figuren in mich aufnehme, gross und mächtig, wenn ich mich in die anonyme Menschenmasse hinein projiziere, mich schliesslich mit dem Ganzen identifiziere.

Die Wienerin Elke Krystufek stellt vier menschengrosse kubische Boxen, die sie selbst "Zelte" nennt, in den Raum. Darin befinden sich Alter-Egos der Künstlerin, die ab Tonband aus ihrem Leben erzählen. Ich stehe davor und trete ein, voyeuristisch und gehemmt zugleich. Die Figuren sind eingeschlossen wie die Menschen in "Huit clos" (Jean Paul Sartre). Auch in unserem privaten und beruflichen Alltag dringen wir oft in die „Räume“ anderer Menschen ein: kommen ihnen nah, sehr nah, zu nah. Dabei geht es um mehr als die Frage von Nähe und Distanz. Es sind Deutungen jeder Begegnung von zwei Wesen.

Antworten angesichts des Todes

In der Ausstellung seines Spätwerkes gibt Paul Klee Antworten auf seine damaligen Erfahrungen: seine unheilbare Bindegewebekrankheit, den Herauswurf aus der Kunstakademie, die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten. Letzte Antworten auf letzte Fragen sind es: lustvolle und böse Träume, kindliche und erwachsene Spiele, kalkuliertes Gestalten im Diesseits, ohnmächtiges Ausgeliefert-Sein ans Jenseits. Die Bilder aus dem Todesjahr 1940 zeigen Leid, Schmerz, Trauer, aber auch Freude, Lust und Sinn der Welt. Geheimnisvoll wie japanische Haikus, anregend zum Meditieren.

In höchster Vollendung zeigt Klee mit "Paukenspieler" ein Bild der Auflehnung des Menschen gegen das Schicksal und gleichzeitig der Gewalt des Schicksals gegen den Menschen. Ist es der Künstler, der die Pauke schlägt? Oder bereits der Tod, der trommelnd daher kommt? Zeichen setzen bis in den Tod, Zeichen für eine andere Welt, wie er es zeit seines Lebens getan hat, hier in letzter Reduktion und Dichte, laut und deutlich, innerlich und geheimnisvoll. Wie andere von einem „naturwissenschaftlichen Gottesbeweis“ sprechen, erlebe ich hier so etwas wie einen „ästhetischen Gottesbeweis“.

Ein Engel erscheint aus dem Jenseits? Oder ist es ein Gefangener im Diesseits? Eine wunderschöne Ambivalenz bietet das in Blau und Schwarz auf lose Jute gemalte Bild "Ohne Titel" (Gefangen, Diesseits – Jenseits, Figur). Ein „Sowohl – als auch“ umschreibt das Leben in einer Tiefe, die für mich in der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts einmalig ist. Freiheit und gleichzeitig Gefangenschaft: zwei Grundformen unseres So-Seins in der sozialen Welt, die uns und den Menschen, für die wir arbeiten, eigen sind.

"Ohne Titel", wahrscheinlich Klees letztes Bild, gilt als sein Vermächtnis. Es überrascht durch eine fast heitere Erzählfreude, die bunten Farben, sein Ja zur Welt. Es verrät, wie der Künstler bis zum Ende malte, kommunizieren wollte. Angesichts dieses Bildes kann der Satz, dass am Anfang das Wort war, ergänzt werden mit: und auch am Ende. Ein herrliches Symbol für die Unsterblichkeit der Kunst. "Die Kunst spielt mit den letzten Dingen ein unwissend Spiel und erreicht sie doch." Diese Formen und Farben lesend, erahnen wir eine Sprache über den Tod hinaus.

Chancen auch für sozial Tätige

Im Alltag machen wir uns normalerweise eindeutige Antworten, weil diese verlangt werden, obwohl wir spüren, dass diese im Innersten nicht stimmen, dass alle wichtigen Antworten mehrdeutig sind und immer auch das Gegenteil gilt. Ebenso wird klar, dass die wirklichen Antworten auch nie statisch und end-gültig, sondern immer dynamisch und in Bewegung sind: Panta rhei.

Die Entdeckungen, Einfahrungen, Einsichten und Erkenntnisse angesichts dieser und anderer Kunstwerke kann mich durch Akte des Probehandelns – was Kunstrezeption immer ist – offen machen für Neues und Anderes, sensibel für Verborgenes und Unbekanntes, mutig für Aussergewöhnliches, Herausragendes – auch in der Sozialen Arbeit.