Werner Fritschi: ein Sozialarbeiter der Sonderklasse

Zum Erscheinen seiner Autobiografie «Mitten drin»


Werner Fritschi, 1936 in Luzern geboren, wuchs bei Pflegeeltern im aargauischen Birmenstorf auf. Er wurde Schriftsetzer und besuchte danach das Gymnasium. Sein breites Wissen in Pädagogik, Sozialarbeit, Soziologie, Philosophie sowie Literatur und Kunst sind unter anderem die Früchte eines lebenslang Lernenden. In der Caritas Schweiz engagierte er sich für die Jugendarbeit und scheute dabei kein Risiko. 1971 machte er sich zusammen mit einem Team als Sozialberater selbständig. Zu viert, mit 20 000 Franken und einem ersten Auftrag, startete er den Beratungsdienst Jugend + Gesellschaft, ein Kleinunternehmen für Jugendsozialforschung. Das Team verstand sich als Brücke zwischen Jung und Alt, Behörden und Subkultur. Die über 120 Ausgaben des Bulletins «Gesellschaft» waren immer wieder für provozierende Analysen gut. Er publizierte ein Dutzend Bücher und über 30 Grundlagenstudien. Seit über 20 Jahren ist er Referent und stellt sich über verschiedene Medien publizistisch in den Dienst der Öffentlichkeit.

In seiner Autobiografie blickt er auf ein spannungsreiches Leben zurück. Sein Lebensweg ist gekennzeichnet durch eine erschwerte Kindheit und im späteren Berufsleben einen Hirnschlag, der ihn aus seinen Aktivitäten herausriss. An diesen Krisen jedoch wuchs er. Die Aufbruchstimmung der 60er Jahre und die Jugendunruhen in den 80ern machten ihn zu einem Anwalt der jungen Generation. Während Staat und Kirche oft hilflos blieben, fand Fritschi Lösungsansätze, die noch heute überraschen.

Seine Erinnerungen lesen sich wie ein Kommentar zu Jugend- und Sozialpolitik, damals wie heute und regen an, Fragen zu stellen, Antworten zu suchen, Verantwortung zu übernehmen.

«SozialAktuell» stellt Werner Fritschi einige Fragen

Warum wurdest du Sozialarbeiter?

Weil mir aus der Kindheit das Gespür verblieb, dass das Soziale, die Beziehung, das Eingebettetsein in ein mitmenschliches Netz etwas ganz Existenzielles bedeutet. Natürlich hatte es auch etwas Kompensatorisches. Eine prägende Figur war für mich Abbé Pierre, die Erlebnisse und die Zusammenarbeit mit ihm in den Pariser Banlieu. Da zeigte einer real, was verwirklichtes Christentum ist.

Welches waren die Highlights deiner Arbeit?

Die damaligen Aktionen (1962/63) mit den Halbstarken-Banden. Mein 5-bändiges Kleeblattmodell zuhanden der Berufsbildung (1990), die 33 Grundlagenstudien (1970 – 1986), meine vierzehn Bücher. Von den Aktionen der Auftritt 1983 in Berlin («Thesen zu den Jugend-Unruhen») bei SP-Chef Hans-Jochen Vogel und seiner Regierungscrew, Referate in München («Züri brännt»), Wien oder Graz, wo ich riesige Säle füllte mit Themen wie «Es brennt in den Herzen».

Was waren, was bedeuten dir deine Misserfolge?

Entscheidende Lernplätze. Wenn ich mich inhaltlich übernommen hatte mit Projekten – was öfter mal vorkam – dann blieb nur eins: reflektieren, welches die Stolpersteine waren und nächstes Mal diese aus dem Weg räumen. Nach der ersten Phase einer unterschwelligen Resignation kam dann schnell der Power, es diesmal besser zu machen.

Was braucht ein guter Sozialarbeiter, eine gute Sozialarbeiterin?

Übrigens nannte ich mich nie Sozialarbeiter, sondern Sozialberater. Ein Arbeiter hat einen Pickel in der Hand; mein Verständnis lag primär auf: miteinander beratschlagen, nachdenken, abwägen, besprechen, abraten, empfehlen, Konzepte ausarbeiten, entwerfen, schreiben. Auf Diplome legte ich nie grossen Wert, jedoch auf Bücher, Lernen, Dialog, geistige Anstrengung schon. Ein guter Sozialarbeiter? Das ist ein jemand, der die Menschen liebt, ihren Sorgen und Nöten nahesteht, voller Empathie sich engagiert – aber über die eigene Nasenspitze und den Horizont der Klientèle hinausdenkt.

Worin unterscheidet sich deine Ausbildung von der heutigen?

Mir scheint, wir waren damals näher dran beim Menschen. Heute meinen diese Schulen, SozialwissenschafterInnen ausbilden zu müssen. Zwar ist Theorie wichtig, aber zuviel Überbau führt weg von den wirklichen Problemen und den Menschen in Not. Ich habe den Eindruck, Höhere Fachschulen helfen mit, den Weg für morgige Diktakturen zu ebnen; diese drohen uns von Seiten der Bürokratie, der Wissenschaft und den digitalen Mechanismen.

Wo ortest du die wichtigsten Probleme der künftigen Sozialarbeit?

In einer globalisierten, ökonomisch vernetzten Welt muss Sozialarbeit derjenige gesellschaftliche Zweig sein, der Sand ins Getriebe bringt im Kampf um eine sozialere, gerechtere Ordnung. An Problemstellungen wird es beileibe nicht fehlen. Ein Beispiel: Wir könnten jetzt lange über Biodiesel reden, mit dem man die Tanks der Reichen in den Weltstädten füllt, und der Wahnidee, dass man mit den Rohstoffen des Biodiesels, mit Nahrungsmitteln wie Reis, Raps oder Zuckerrohr an die internationale Börse geht und damit die Preise hochtreibt. Zu den 800 Millionen Hungernden kommen jetzt 120 Millionen neu dazu. In welcher Barbarei leben wir eigentlich? Konkret: Sozialarbeit muss sich bei der kommenden Energiekrise mit den unteren Schichten solidarisieren, handfeste Lösungen für die Betroffenen suchen und gleichzeitig die geopolitischen Strategien durchschauen. Also müssen die AbsolventInnen der Sozialschulen heute in Alternativen denken lernen.

Werner Fritschi: Mitten drin. Im Spannungsfeld Jugend und Gesellschaft. Eine Autobiografie. Pro Libro, Luzern 2008, 135 Seiten