Eine aktuelle Pietà

Fotografien können Abbilder, Vorbilder und Sinnbilder der Welt und des Lebens sein. Das zeigte bereits der Wettbewerb swiss press photo 2012, noch eindrücklicher das Siegerbild des world press phot of the year 2011. Fatima al-Qaws wiegt am 15. Oktober in Sanaa, Jemen, ihren Sohn Zayed in den Armen; der spanische Fotograf Samuel Aranda stand daneben und hat die Szene festgehalten.

Er war von Tränengas getroffen worden, als er an einer Demonstration teilnahm. Anhaltende Proteste gegen das 33 Jahre dauernde Regime des autoritären Präsidenten Ali Abdullah Saleh eskalierten an diesem Tag. Zeugen berichteten, dass Tausende über die Zubairy Strasse, eine Hauptverkehrsstrasse, gelaufen seien und dass auf sie geschossen wurde, als sie den Checkpoint zum Aussenministerium erreichten. Einige Demonstranten wichen zurück, andere gingen weiter und wurden wieder beschossen. Es starben mindestens zwölf Menschen und etwa 30 wurden verletzt.

Die Mutter, selbst am Widerstand gegen das Regime beteiligt, fand ihren Sohn erst bei ihrer zweiten Suche unter den Verwundeten in einer Moschee, die als Feldlazarett genutzt wurde. Der Sohn war nach dem Zwischenfall zwei Tage im Koma. Bei weiteren Demonstrationen wurde er noch zweimal verletzt. Am 23. November 2011 floh Präsident nach Saudi-Arabien und unterzeichnete eine Vereinbarung, in der er die Macht seinem Stellvertreter Abdurabu Mansur Hadi übertrug. Salehs Herrschaft endete formell nach der Präsidentschaftswahl mit Hadis Vereidigung am 25. Februar 2012.

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Eine Ikone …

Der spanische Fotograf Samuel Aranda hat das Bild gemacht, hat abgebildet, was er vorgefunden hat, was bekanntlich die erste Aufgabe der Pressefotografen ist. Das Bild aber wirkt weltweit weiter: als Vorbild. Bei Millionen Menschen löst es im Fühlen, Denken, Sprechen und Handeln etwas aus, wird zu einem Bild, das Sinn stiftet, zu einem Sinnbild. In der heutigen Medienwelt wird ein solches Bild eine Ikone.

Ähnlich geht es Mark Henley mit seinem Foto aus der Serie «Bank on us» mit dem rennenden Banker im Regen beim diesjährigen Schweizer Fotowettbewerb. Ähnlich auch Pablo Picasso (1881 – 1973) mit seinem Kriegsbild «Guernica», über das er sagte: «Dieses Bild ist nicht zu Dekorationen von Wohnungen bestimmt. Es ist eine Kriegswaffe, offensiv und defensiv gegen den Feind.» Inhaltlich und formal mit dem Foto ähnlich ist die weltweit bekannte «Pietà» von Michelangelo aus dem Jahre 1498/99, ähnlich auch, doch formal anders, strenger und wesentlicher steht dagegen die «Pietà Rondanini», an welcher der Meister von 1552 bis 1564 gearbeitet hatte. Und zu diesen hat der Spanier Samuel Aranda 500 Jahre später eine «Pietà» geschaffen, die für unsere Zeit und unsere Welt Gültigkeit hat.

… des 21. Jahrhunderts

Die in einer Burka verschleierte Frau hält einen halb nackten, verletzten Demonstranten im Arm, dominant, leicht links von der Mitte, oben den Bildrand berührend, frontal zu uns. Sie ist ganz «Mater dolorosa», obwohl wir ihr Gesicht nicht erkennen. Der gequälte Körper ihres Sohnes lehnt mit schmerzgeöffnetem Mund an den Hals der Mutter. Er kam dahin zurück, wo er einst war. Mit einer ihrer weiss behandschuhten Hand hält sie seinen Kopf, führt ihn an ihren Hals, mit der andern seinen rechten Arm, der über seinem linken liegt: Nähe, Halt, Schutz bietend. Aus dem kleinen Spalt im Kleid sieht die Mutter leidend den leidenden Sohn.

Die von «The New York Times» erstmals veröffentlichte Aufnahme stehe für den «Arabischen Frühling» und somit für die Demokratiebewegung in der Region insgesamt, befand die Jury. Das Siegerbild zeige einen ergreifenden und emotionalen Augenblick eines Ereignisses, das sich weiterentwickle, meinte der Jury-Präsident. Beide abgebildeten Personen sind ein lebendiges Bild jener Menschen, die mit ihrem Mut dazu beitragen, ein wichtiges Kapitel in der Geschichte des Mittleren Ostens aufzuschlagen. Das Foto steht für die Frauen und Männer, die in Nordafrika und in andern Gebieten der Erde ihr Leben einsetzen für Freiheit, Demokratie und Menschlichkeit.

… von Samuel Aranda

Der Fotograf Samuel Aranda wurde 1979 in Barcelona geboren. Mit 19 begann er für «El Pais» und «El Periodico de Catalunya» zu fotografieren. Einige Jahre später reiste er in den Nahen Osten und arbeitete über den dortigen Konflikt für die spanische Agentur EFE. 2004 begann er für Agence France Presse soziale Themen in Spanien, Pakistan, im Gazastreifen und in der Westbank, im Libanon, Irak, in Marokko und in der westlichen Sahara zu fotografieren.

2006 gewann Aranda den Preis der spanischen Fotojournalisten für eine Reportage über Afrikaner, die versuchen, nach Europa zu fliehen, mit Fotos und einem Dokumentarfilm für BBC. Dann arbeitete er als Freelance in Usbekistan, Indien, Kosovo, in Südafrika vor der Fussballweltmeisterschaft, in Kolumbien, in Moldawien und Transnistrien, bei Strassenkindern in Bukarest und bei der Mafia in Neapel. 2011 reiste er erneut nach Tunesien, Ägypten, Libyen und Yemen. Gegenwärtig arbeitet er für die «The New York Times», «El Magazine de La Vanguardia» und weitere Publikationen, vertreten wird durch Corbis Images. Ein Interview mit dem Fotografen leuchtet die Hintergründe seines Schaffens aus.

Das Siegerfoto ist zusammen mit weiteren rund 160 prämierten Pressebildern, in neun Kategorien gegliedert, noch bis zum 28. Mai 2012 im Papiersaal, Sihlcity, Kalenderplatz 6, 8045 Zürich, zu sehen: Mo – So 11:00 bis 19:00, Fr. 11:00 bis 21:00. Eine Diaschau über die Preisträger und ein Katalog zu Fr. 39.- vertiefen den Ausstellungsbesuch.