Benz, Wolfgang: Antisemitismus. Präsenz und Tradition eines Ressentiments *

Dieses Buch referiert Arbeitsergebnisse und Erkenntnisse aus langjähriger Beschäftigung mit einem verbreiteten Vorurteil der menschlichen Gesellschaft und dessen Folgen im Holocaust.

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Wolfgang Benz ist Historiker, lehrte bis 2011 an der TU Berlin, leitete dort das Zentrum Antisemitismusforschung und veröffentlichte zahlreiche Publikationen zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert, zum Holocaust und zur Ressentimentsforschung.

Ein äusserst faktenreiches, auf jahrzehntelangen Forschungen fussendes Buch! Es beginnt mit Definitionen und unterscheidet vier Formen der Judenfeindschaft: den christlichen Antijudaismus, den anthropologisch-biologistischen Rassenantisemitismus, den «sekundären» Antisemitismus und einen linken, Israel-kritischen Antizionismus. In meinen Augen eine Ausdifferenzierung, die eher verwirrt als klärt. Höchst spannend und informationsreich hingegen sind die folgenden Kapitel: Religion und Judenfeindschaft: Antijudaismus von der Antike bis zur Neuzeit; Rasse und Judenfeindschaft: Der moderne Antisemitismus als antiemanzipatorische und antimoderne Ideologie; Gesellschaft und Judenfeindschaft in Europa; Erster Weltkrieg und Weimarer Republik: Antisemitismus auf dem Weg zur Staatsdoktrin in Deutschland; Ausgrenzung und Diskriminierung: Juden im Nationalsozialismus; Ideologie und Genozid: Der Judenmord. Der Hauptteil dieses auch sehr gut geschriebenen Buches birgt einen Schatz von wichtigen und zum Teil wenig bekannten Informationen, die eine Verbreitung verdienen. Die Behandlung der Möllemann-Affäre und das Anrennen gegen die 69 Zeilen, mit denen Günter Grass die einzige Atomnation in Nahost kritisiert, nimmt (zu) viel Platz ein. Und das Kapitel über den Antisemitismus in der Schweiz scheint mir recht zufällig und nicht repräsentativ, dürfte wohl nur von den wenigsten in der Schweiz lebenden Juden als typisch und signifikant bezeichnet werden. Bei den Kapiteln «Bekämpfung des Antisemitismus» und «Wege der Antisemitismusforschung» wünschte ich mir vermehrt eine Öffnung zum Rassismus jeder Art, hier wie an anderen Stellen bringen die Neuen (jüdischen) Historiker andere, notwendige Fakten und Meinungen. Für mich leistet Wolfgang Benz mit diesem Werk, vor allem seinem historischen Teil, ein Dreifaches:

Erstens beschreibt er die systematische, lückenlose und kontinuierliche Entwicklung des Antijudaismus von der Antike bis in die Gegenwart, von unreflektierten antisemitischen Anspielungen bis zu unverhüllten Vernichtungsforderungen. Dabei wird ein roter Faden erkennbar, der von der Ritualmordlegenden, dem Hostienfrevel, der Deklaration der Juden als Gottesmörder, wie es bereits Abt Hieronymus von Bethlehem (347 - 420) formulierte und wir es in unserer Jugend im katholischen Ostergottesdienst noch hörten, bis hin zur Ermordung der sechs Millionen Juden durch die Nazis. Auch belesene Leser finden hier Neues.

Sichtbar wird zweitens, dass es nicht allein der Katholik Hitler war, auch nicht allein seine Generalität, es war der grösste Teil des Volkes, das hinter den Machenschaften und Verbrechen der Nazis stand, also ein «christliches» Volk, Katholiken und Protestanten.

Beides fliesst, etwas ausgeweitet, in ein Drittes: Es sind alle drei Buchreligionen, die sich an den scheusslichsten Grausamkeiten der Menschheit schuldig gemacht haben. Seit dem Mittelalter bis heute vor allem die Christen, die, neben den Kreuzzügen gegen den Islam, Ungeheuerliches gegen die Juden angerichtet haben, wie dieses Buch belegt. Seit etwa einem Jahrhundert, vor allem seit der Nakba 1948, sind es Juden, die in Palästina einen Apartheidstaat errichten und, hochgerüstet durch die USA, eine ethnische Säuberung anstreben.

Vor allem nach 9/11, aber schon vorher, erinnert sei an die Flugzeugentführungen und Selbstmordattentate, sind es Muslime, die heute unter der Fahne des Islamischen Staates ein neues Kalifat errichten wollen und dabei vor keiner Grausamkeit zurückschrecken.

Vielleicht sind das etwas vorschnelle, pauschale, sehr persönliche, das Thema des Buches sprengende Schlussfolgerungen. Doch weiterzudenken und zu hinterfragen, ist wohl auch das Anliegen von Manfred Benz. So oder so: Wertvoll ist die Auseinandersetzung mit dem Buch «Antisemitismus», auch wenn man in einigen Aussagen anderer Meinung ist, allemal. Doch am Schluss bleibt mir im Tiefsten, jenseits aller Forschungsergebnisse, ein Geheimnis, ein grosses Warum über das schwer verstehbare Schicksal der Juden über die Jahrhunderte hinweg.

Benz, Wolfgang: Antisemitismus. Präsenz und Tradition eines Ressentiments. Wochenschau Verlag. Schwalbach 2015. 254 Seiten