Edlinger, Fritz (Hg.): Mit Spraydose und Pinsel gegen die Besatzung. Graffiti in Palästina

Nirgendwo sonst haben Wandmalerei und Graffiti in den vergangenen Jahrzehnten so eindeutig politischen Charakter angenommen wie in Palästina.

058

Pinsel und Spraydose sind seit der ersten Intifada 1987 zu wichtigen Waffen des Protestes geworden. Auch der berühmte Graffiti-Künstler Banksy stattete den besetzten Gebieten einen Besuch ab und bereicherte die Wände Palästinas mit weiteren politischen Motiven. Graffiti aus Gaza und der Westbank gelten weithin als wichtige Elemente der Politisierung und Mobilisierung. Mit ihrer Kunst als Widerstandsform gegen die israelische Besatzungspolitik haben palästinensische Maler und Sprayer weltweit ein Publikum erreicht. Bilder wie der Steine werfende Junge oder die Bäuerin, die in ihrem Tragetuch die ganze Last eines geschundenen Volkes schleppt, haben sich in das kollektive Gedächtnis künstlerisch interessierter und politisch engagierter Menschen eingegraben. Mit dem vorliegenden Buch machen wir uns auf eine Reise durch das Land, das seit mehr als sechzig Jahren, wider alle Regeln des Völkerrechts, besetzt ist, und begegnen wir den Menschen im Land, wie sie leben und überleben. Die mehr als 150 Seiten mit den doppelseitigen, ganzseitigen und halbseitigen farbigen Bildern von Graffiti und Wandmalereien vor Ort laden ein zum Verweilen und Nachdenken. Wir lernen dabei auf eine neue Weise das Volk kennen, das von den Israelis erklärterweise vertrieben oder ausgerottet werden soll.

Der Bildband zeigt ein buntes, lebendiges, widerständiges Palästina, das seinen Besatzern trotzt und seine Kraft farbenfroh zum Ausdruck bringt. Themen wie die zionistische Landnahme, die Vertreibungen nach 1948 und 1967, die Zerstörung der palästinensischen Landwirtschaft, die demütigenden Personenkontrollen, der Mauerbau und das Leben im grössten Gefängnis der Welt, dem Gazastreifen, stehen dabei genauso im Mittelpunkt wie künstlerisch ausgedrückte Hoffnung auf ein Leben ohne Unterdrückung: der Olivenbaum als Lebensspender, der in die Mauer gemalte Durchgang und die junge Frau, die sich von Luftballons in die Freiheit tragen lässt. Auch die Ironie kommt in den Malereien nicht zu kurz, wenn beispielsweise ein junges, sommerlich luftig gekleidetes Mädchen einen uniformierten und bis an die Zähne bewaffneten israelischen Soldaten durchsucht und zur Ausweisleistung auffordert. Dieses von Banksy entworfene und seither oftmals kopierte Motiv ist oben abgebildet.

Das Editorial des Herausgebers führt in die Thematik ein und bereitet auf die drei Fachartikel vor: «Das Blau meiner Angst. Kunst als Mittel zur partizipativen Identitätsfindung in den Flüchtlingslagern Palästinas» von Lamis Rahbani, Pseudonym einer in der Westbank tätigen Journalistin; «Politische Einflüsse in der palästinensischen Kunst», geschrieben vom Maler Sliman Mansour; «Frauen und Raum: Weibliche Strassenkunst in Palästina» von der algerisch-französischen Autorin und Filmemacherin Samiha Abdeldjebar. Die Texte verorten die Graffiti zeitlich, örtlich, politisch und setzen sie zu anerkannten Grössen der internationalen Kunst wie der mexikanischen Malerin Frida Kahlo, der Performerin Marina Abramović oder dem palästinensischen Filmemacher Elia Suleiman in Beziehung.

Graffiti sind, so meine ich, wie andere Medien, Abbilder einer Wirklichkeit, wie ein Seismograf machen sie Verborgenes sichtbar. Indem sie jedoch abbilden, und dies in aller Öffentlichkeit tausendfach tun, werden sie gleichzeitig zu Vorbildern für eben diese Wirklichkeit, dienen der Aufklärung und Mobilisierung. Und in diesem Abbild-Vorbild-Prozess werden sie, wenn es der Künstlerin, dem Künstler gelingt, die Welt in ihrer Tiefe und Höhe abzubilden, zu Sinnbildern, die über Zeit und Raum gültig sind.

Edlinger, Fritz (Hg.): Mit Spraydose und Pinsel gegen die Besatzung. Graffiti in Palästina, ProMedia Verlag, Wien 2016, 224 Seiten, davon über 150 Seiten farbige Bilder