Feldman, Deborah: Unorthodox

Bei Deborah Feldmans autobiografischem Bericht «Unorthodox» handelt es sich um einen 2012 in den USA erschienenen, kontrovers diskutierten Millionen-Bestseller, der nun, nach vier Jahren, in deutscher Übersetzung erscheint. Allein der überraschende Erfolg lässt aufhorchen und nachdenken, welche Grundbefindlichkeiten das Buch thematisiert.

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Deborah Feldman, 1986 in New York geboren, wuchs in der chassidischen Satmar Gemeinde in Williamsburg, New York, auf. Dort herrschen die strengsten Regeln ultraorthodoxer jüdischer Gruppe weltweit. Die Satmarer, wie sie sich seit ihrer Gründung nach dem Zweiten Weltkrieg nennen, sind nach der ausgelöschten Gemeinde ihres Gründers Satu Mare im heutigen Rumänien benannt. Um eine Wiederholung der Shoa zu vermeiden, führen sie ein abgeschirmtes Leben nach strengen Vorschriften. Sexualität ist ein Tabu, Ehen werden arrangiert, im Alltag wird Jiddisch gesprochen. Nach Schätzungen zählt die Gemeinde heute 120.000 Mitglieder.

Schon als Kind nahm Deborah Anstoss an der strikten Unterwerfung unter die vom Gründungsrabbiner der Sekte aufgestellten Lebensgesetze: der Ausgrenzung, der ärmlichen Lebensweise und der Unterordnung der Frau. Ihr Gerechtigkeitsempfinden und ihr Wissenshunger haben sie, verstärkt durch verbotene Literatur, angetrieben, ihren Alltag zu hinterfragen. Dabei hatte sie ständig Angst, entdeckt und bestraft zu werden, und dann ihren einzigen Ausweg aus der Enge ihrer Welt zu verlieren. «Unorthodox» erzählt ihr Leben zwischen dem 17. und 24. Lebensjahr. Ihr Vater ist scheinbar dem Wahnsinn verfallen und streunt daueralkoholisiert durch die Strassen Williamsburgs. Helfen möchte ihm niemand, denn Geisteskrankheiten gelten in ihrem Glaubenssystem als nicht behandelbar. Ihre Mutter hat sich mit unbekannten Gründen aus der Staub gemacht und ihren Glauben aufgegeben. Später wurde klar, dass sie lesbisch ist. Deborah wächst daher bei ihren streng gläubigen Grosseltern auf.

Das persönlich geschriebene Buch gewährt Einblick in eine Welt, die den meisten wohl unbekannt ist. Einen Glauben, der sich danach richtet, was der jeweilige Rabbiner, oft sehr spontan, vorgibt, in dem Frauen ihre Haare abrasieren und Perücken tragen, junge Menschen zwangsverheiratet werden, Selbstbefriedigung und Verhütung verboten sind. Das Sexualleben ist nach der beruflichen Auslastung des Mannes ausgerichtet, streng geregelt. Thora-Studenten wie ihr Ehemann Eli etwa dürfen immer freitags ihre Frau begatten. Doch die verschworene Gemeinschaft, die ihre Mitglieder konsequent vor der Zivilisation abschottet, beschützt sie andererseits auch. Das System scheint zu funktionieren. Die dargestellten Personen sind allesamt Menschen, die sich einem strengen religiösen Diktum beugen, niemals Böses im Sinn haben. Es sind naive, gläubige Bürger, keine Sadisten oder gar Fanatiker. Zu urteilen, ob diese kontrollierte, überwachte, engstirnige, beschränkte Lebensweise jedoch als Krankheit bezeichnet werden kann, sei dem Publikum überlassen.

Aufschlussreich und eindrücklich ist das Buch: eine persönliche, detaillierte und realistische Innenansicht eines extremen Judentums. Besonders ausführlich und erschütternd in den Kapiteln, welche die Zeit vor ihrer Heirat, bei der Hochzeit und bis zur Geburt des ersten Kindes beschreibt. Denn alles, was mit Sex zusammenhängt, ist geregelt, reglementiert. Es handelt sich über weite Strecken geradezu um eine religiöse «Legiferierung» der Sexualität. Feldmann bringt eine schmerzhaft erlittene authentische Beschreibung dieser Situation. Eine psychologische, soziologische, medizinische, ethische und theologische Aufarbeitung drängt sich nach meinem Bedürfnis auf. Die Gewalt, mit der Sexualität durch die Religiosität gebändigt wird, erklärt auch die Gegengewalt, welche die Autorin nach viel erlittenem Schmerz und erfahrener Erniedrigung befähigt, sich allmählich zu befreien. Eigentlich erst als Mutter, die die minutiösen Reinigungszeremonien zu schwänzen beginnt, und als Ehefrau, die verbotenerweise ein Collegestudium an einer nicht-jüdischen Hochschule aufnimmt. Dort fängt sie langsam an, sich weltlich zu kleiden, zumindest für die Unterrichtsstunden. Und sie beginnt zu schreiben. «Ich habe keine Vergangenheit, an die ich mich klammen könnte; die letzten dreiundzwanzig Jahre gehören jemand anderem, jemandem, den ich nicht mehr kenne», heisst es im Rückblick, als sie mit der Vergangenheit abzurechnen beginnt. Über neu gewonnene Freunde kommt sie in Kontakt zu einem Verlag, bei dem sie ihre Memoiren einreicht. Und als ihr kleiner Sohn in das Alter kommt, in dem er in die chassidischen Riten eingeführt werden sollte, flieht sie. Und damit endet das Buch. Heute lebt Deborah Feldman in Berlin, im Land, aus dem ihre Eltern einst vor den Nazis geflohen sind. Anderen Menschen, die heute in einer ähnlichen Situation leben wie sie damals, spricht sie im letzten Satz Mut zu: «Wenn irgendwer jemals versuchen sollte, dir vorzuschreiben, etwas zu sein, was du nicht bist, dann hoffe ich, dass auch du den Mut findest, lautstark dagegen anzugehen.»

Feldman, Deborah: Unorthodox. Secession Verlag, Zürich 2016, 319 Seiten