Gorenberg, Gershom: Israel schafft sich ab *

Israel ist ein Land mit unsicheren Grenzen und einem Staat, der seine eigenen Gesetze ignoriert. Seine demokratischen Ideale stehen kurz davor, wie die Ideologien des 20. Jahrhunderts als falsche politische Versprechen in die Erinnerung einzugehen. Was wird aus Israel in fünf oder zwanzig Jahren? Wird es die Zweite Israelische Republik gründen, eine blühende Demokratie innerhalb engerer Grenzen? Oder wird es ein Pariastaat sein, wo eine ethische Gruppe über eine andere herrscht? Oder wird es gar ein auf der Karte markiertes Territorium zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer sein, wo der Staat durch zwei sich bekriegende Volksgruppen ersetzt worden ist? Wird Israel das Zentrum der jüdischen Welt sein oder ein Ort, an den die meisten Juden im Ausland lieber nicht denken? Die Antworten hängen davon ab, was Israel nun tut. – Mit diesen Fragen beschäftigt sich Gershom Gorenberg, der sich als orthodoxen Juden identifiziert, in seinem 2011 unter dem Originaltitel «The Unmaking of Israel» erschienenen Buch. Er selbst lebt nach den strengen Vorschriften für ein gottgefälliges Leben, die in der Tora festgelegt wurden, befolgt die Regeln des koscheren Essens, die Einhaltung der Sabbatgesetze und schickt seine Kinder in eine orthodoxe Schule. In Israel gilt er als Bestseller-Autor und wurde für seine Biographie über Jitzchak Rabin mit dem «National Jewish Book Award» ausgezeichnet.

gesrsom-gorenberg.jpg

In sieben Kapiteln schildert er, auf Interviews, Zeitungsartikeln, Websites, Gesetzestexten, juristischen Fällen und der Fachliteratur fussend, aus der Sicht eines orthodoxen Juden den Nahost-Konflikt. Für viele von uns dürften einige dieser orthodoxen und vor allem ultraorthodoxen Innenansichten neu sein. Er schreibt kritisch über die Ungerechtigkeiten der Israelis und setzt sich dennoch leidenschaftlich für seinen jüdischen Staat ein. Hier versucht einer in intellektuell und emotional neuen Tönen die Ungerechtigkeiten und Absurditäten wahrzunehmen: das Leben der Ultraorthodoxen, die auf Kosten der andern ein Leben lang «studieren»; den Wirrwarr von Reglementen beim Militär (aus «Breaking the Silence» bekannt); das rückwärtsgewandte, allein um die Tora kreisende Bildungswesen; das menschenverachtende Denken, Fühlen und Handeln vieler Siedler. Gorenberg liefert aufwühlende Psychogramme von orthodoxen, vor allem ultraorthodoxen Juden, wie wir es bisher wohl kaum gelesen haben.

Was der Autor dann aber im Schlusskapital «Die Neugründung Israels» vorschlägt, besteht nach meiner Ansicht aus nicht viel mehr als frommen Wünschen, aus Dutzenden von «Müsste», «Sollte» und «Könnte». Es sind die Negationen all dessen, was er in den voranstehenden Kapiteln kritisiert hat. Ich kann es nicht glauben, dass dies in Zukunft alles besser werden soll, was seit sechzig Jahre immer nur schlimmer wurde. Ausgeblendet hat der Autor die aktuelle Weltpolitik: Amerika, die EU, Russland, den Iran (der nach Israel wohl die zweite nahöstliche Atommacht wird); die Ereignisse des «arabischen Frühlings», der wohl auch den Israel-Palästina-Konflikt beeinflussen wird; die Intensivierung der weltweiten Missionierungstätigkeiten aller drei Buch-Religionen; die weltumspannenden Verwerfungen durch die erst begonnene Völkerwanderung. Realistisch betrachtet, sehe ich keine Chance für eine Lösung des Konflikts. Die vom Autor eindrücklich beschriebenen psychischen und religiösen Voraussetzungen scheinen mir nicht in relevanter Grösse vorhanden zu sein. Mir fehlt folglich der Glaube an die beschriebenen Verbesserungen der Lage im Nahen Osten, obwohl ich überglücklich wäre, ich hätte Unrecht. So bleibt als Fazit die traurige Wirklichkeit, welche der Buchtitel prognostiziert: Israel schafft sich ab.

Gorenberg, Gershom: Israel schafft sich ab. Campus, Frankfurt a. M. 2012. 316 Seiten