Leukefeld, Karin: Syrien zwischen Schatten und Licht *

Als 1916 die Staatsgrenzen Syriens und seiner Nachbarstaaten gezogen wurden, war die Region schon ein Spielball der Grossmächte. Heute, 100 Jahre später liegt das Land in Trümmern. In einem wichtigen Buch von Karin Leukefeld berichten Zeitzeugen über Leben, Hoffnungen und Scheitern in Syrien.

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«Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbst gewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.» Mit diesem Marx/Engels-Zitat aus dem Jahre 1885 beginnt ein grossartig geschriebenes, höchst informative Buch über 100 Jahre Syrien. Der Satz verweist auf eine Grunderkenntnis des Buches «Syrien zwischen Schatten und Licht. Menschen erzählen von ihrem zerrissenen Land». Deren Autorin, Karin Leukefeld, wurde 1954 geboren, studierte Ethnologie, Islam- und Politikwissenschaften, berichtet seit 2000 als freie Journalistin aus dem Nahen und Mittleren Osten für Tages- und Wochenzeitungen sowie den ARD-Hörfunk und Radio DRS. Seit 2010 ist die Journalistin in Syrien akkreditiert. Texte von ihr sind im Internet zu lesen, Gespräche mit ihr zu hören. Unter dem Sammeltitel «Leben im Hintergrund der Schlagzeilen» gibt es frühere Reportagen und Interviews, auf KenFM Gespräche, zum Beispiel jenes vom 1. März 2016, das über die aktuelle Situation informiert.

Der heutige Nahe Osten ist das Ergebnis eines britisch-französischen Machtkampfes, der mit dem Geheimabkommen der Diplomaten François Georges-Picot (Frankreich) und Sir Mark Sykes (Grossbritannien) während des Ersten Weltkrieges 1916 begann. Die beiden zogen «Linien in den Sand» von der Hafenstadt Akre bis zur Ölstadt Kirkuk, um ihre Interessen gegeneinander abzustecken. Die so entstandenen neuen Nationalstaaten, Irak, Jordanien und Syrien, sollten im Auftrag des Völkerbundes von den damaligen grossen Kolonialmächten unter einem Mandat zu Unabhängigkeit geführt werden. Vom Scheitern dieses Auftrags berichtet das Buch. Es beschreibt wiederholte Aufstände und Versuche der Syrer, ihre Unabhängigkeit zu erreichen und die immer neuen Bestrebungen regionaler und internationaler Akteure, die Entwicklung Syriens nach eigenen Interessen zu formen. In einem Interview vom 30. August 2012 referiert Leukefeld mit der Aussage eines Syrers die Situation mit folgender Kurzform: «Wir haben mit zwei Worten angefangen: Freiheit und Würde. Und nun haben wir nur noch ein Wort: Takbir! Allahu akbar.» Takbir bedeutet: Sprich mir nach, gemeint ist: Allah ist gross. Die Berichterstattung des Buches führt bis 2014, kann mit neuen Artikeln und Gesprächen der Autorin bis heute ergänzt werden, beispielsweise mit der ARD-Reportage vom 23. März 2016, einem Film von Markus Matzel und Karin Leukefeld: «Was von Kriegen übrig bleibt». Wenn wir die aktuelle Situation betrachten, kann vom obigen Marx/Lenin-Zitat ein Bogen gespannt werden zur Feststellung, dass die Geschichte eines Lands auch von der Geschichte der umliegenden, bei Stellvertreterkriegen sogar noch von weit entfernten Ländern bestimmt werden. Was zeigt, wie alles mit allem zusammenhängt.

In zehn Kapiteln erzählt die Autorin die Geschichte des Landes. Bei einigen Abschnitten stehen Einzelpersonen im Mittelpunkt, bei anderen die objektiven Ereignisse der Weltgeschichte. Karin Leukefeld gelingt etwas Wunderbares: Sie bricht die grosse Geschichte auf die kleinen Geschichten herunter und verbindet die kleinen mit der grossen. Ihre Aussagen über den Nahen Osten belegt sie mit einem breiten und profunden Wissen. Sie und ihre Gesprächspartner erzählt in einer lesbaren und spannenden Art. Das Buch schliesst mit einem einer Chronologie, einem Literaturverzeichnis, Begriffserklärungen und zwei Karten. – «Syrien zwischen Schatten und Licht. Menschen erzählen von ihrem zerrissenen Land» wird wohl bald das Standardwerk über Syrien, ein Muss für Menschen, die sich über diese Gegend informieren wollen.

Leukefeld, Karin: Syrien zwischen Schatten und Licht. Menschen erzählen von ihrem zerrissenen Land. Rotpunktverlag, Zürich 2016, 334 Seiten