Napoleoni, Loretta: Die Rückkehr des Kalifats. Der Islamische Staat und die Neuordnung des Nahen Ostens *

Im Schatten der weltpolitischen Ereignisse zwischen 9/11 und dem Arabischen Frühling ist die Terrormiliz Islamischer Staat zu einer Organisation herangewachsen, die heute im Begriff ist, die politische Landkarte des Nahen Ostens neu zu ordnen.

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Dieses Phänomen beleuchtet Loretta Napoleoni, die 1955 in Rom geboren wurde, an der Johns Hopkins Universität Internationale Politik studierte, heute als international anerkannte und geschätzte Terrorismusexpertin Regierungen und Think Tanks berät und als Erste den Umfang der globalen Terrorökonomie berechnet hat, mit grosser Sachkompetenz.

Was unterscheidet den Islamischen Staat von anderen terroristischen Organisationen, allen voran Al-Qaida? Klar und präzise zeigt die Autorin, welche Ereignisse insbesondere nach 2003, der US-Invasion im Irak, Wendepunkte markieren und welche Rolle der seit 2011 anhaltende Bürgerkrieg in Syrien spielt. Ihre These: Der IS verfügt mehr als jede andere bewaffnete Gruppe in der Vergangenheit über die Ressourcen und die Strategien zur dauerhaften Staatenbildung. Die rohe Brutalität, mit welcher der Islamische Staat vorgeht, und die bisher nie gekannte mediale Selbstinszenierung seien nur scheinbar zwei widersprüchliche Eigenschaften einer Organisation, die sich die dramatischen Umbrüche in der Region wie die technologischen Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts anders als Al-Qaida zu Nutze macht.

Mutige Fragen, provozierende Antworten

Napoleoni geht in ihrer Analyse mit dem Westen hart ins Gericht. Sie zeichnet nicht nur den Weg von IS nach, der zurück geht bis in die koloniale Aufteilung des Nahen Ostens vor 100 Jahren und in der Invasion in den Irak seine Geburtsstunde hat. Doch wie soll man mit IS umgehen? Die Wissenschaftlerin behauptet, dass IS erfolgreich dabei sei, einen Staat zu gründen, der die von der gesamten arabischen Welt als willkürlich und demütigend empfundenen kolonialen Grenzen niederreisse. Durch sein Versprechen, den ausgegrenzten und in Krieg und Chaos lebenden Muslimen weltweit einen eigenen Staat zu schaffen, in dem sie selbst über ihr Schicksal bestimmen, verleiht ihm grosse Anziehungskraft. Ein Seitenblick auf das zionistische Projekt der Juden lohnt sich. Napoleoni spricht sich vehement gegen Bombardierungen aus, weil man damit IS nicht auslöschen, sondern «abermals den Westen zum Feind der arabischen Bevölkerung» machen werde. Sie glaubt, dass der Terror des IS nicht Ziel, sondern Mittel zum Zweck sei, einen regulären Staat zu gründen. «Der IS kann sich tatsächlich von einer terroristischen Gruppe in eine Nation verwandeln.» Um ihn dennoch zu besiegen, meint sie, «ist eine enorme militärische Kapazitäten, vor allem aber eine erfolgreiche Befriedungspolitik nötig.» Dieses Ziel erscheint jedoch selbst ihr unerreichbar, weswegen sie vorsichtig und dennoch engagiert für Verhandlungen plädiert. Einen Dialog mit Terroristen? Napoleoni stellt diese gewagte Forderung aus dem einzigen Grund, weil der Islamische Staat uns näher sei als wir wahr haben wollen. Er repräsentiere nur eine andere, dunklere Seite unserer modernen Welt. Dass ich ihrem Plädoyer für den Dialog nicht ganz folgen kann, möge man mir verzeihen.

«Der IS ist ein Staat! Und nicht einfach nur eine bewaffnete Organisation. Er hat eine riesige Anziehungskraft auf junge Muslime in der ganzen Welt, die sich als Aussätzige fühlen. Diese Leute träumen von einem Staat, zu dem sie endlich dazugehören.» Doch um welchen Preis? «Für die Anhänger spiele das keine Rolle, weil der IS ein besseres Leben verspricht, hier auf der Erde und nicht erst als Märtyrer im Paradies wie bei Al Qaida.» Eine solche Staatsgründung bedeute zudem das Ende einer fast 100 Jahre währenden Demütigung, die 1916 begann, als Briten und Franzosen die Araber zum Kampf gegen die osmanischen Besatzer aufriefen. Ein eigener Staat wurde ihnen versprochen, tatsächlich aber teilten diese dann in einem Geheimvertrag den Nahen Osten unter sich auf. Das Sykes-Picot-Abkommen, das auch Israel und Palästina betrifft, ist bis heute das Symbol für westlich-imperialen Verrat. «Die Grenzen im Nahen Osten sind doch alle künstlich, keine Grenzen, die etwas mit der Kultur, den Religionen und Ethnien dieser Region zu tun haben. Sie wurden vom Westen gezogen.» Das Thema etwas ausweitend, kann der Islamische Gottesstaat auch in Bezug gesetzt werden zum Gottesstaat der Juden und zum Gottesstaat der Christen im Mittelalter und in extremen Auswüchsen auch in der Gegenwart.

Selbst wenn ich vieles in diesem faktenreichen, vielschichtigen und gescheiten, wenn auch nicht immer leicht zu lesenden Buch von Loretta Napoleoni nicht ganz verstehe, ich habe das starke Gefühl, dass es einen Quantensprung darstellt im Beschreiben, Analysieren und Deuten dessen, was unter dem Phänomen Islamischer Staat sich gegenwärtig ereignet. Dass bereits eine zweite Auflage im Druck ist, noch bevor die erste Auflage richtig angekommen ist, spricht für die Bedeutung dieses Werkes.

Ein Tipp: «Komm auch zum IS ... das ist wie im Computerspiel Call of Duty - nur in echt», ein Gespräch von Daniel Binswanger mit Olivier Roy, Tages-Anzeiger Magazin, 21. März 2015

Napoleoni, Loretta: Die Rückkehr des Kalifats. Der Islamische Staat und die Neuordnung des Nahen Ostens. Rotpunktverlag, Zürich 2015, 158 Seiten