Nusseibeh, Sari: Ein Staat für Palästina? Plädoyer für eine Zivilgesellschaft in Nahost *

«Als Gedankenexperiment möchte ich eine Massnahme vorschlagen, die so anstössig ist, dass sie zu ihrer eigenen Aufhebung führen könnte. (…) In diesem Sinne und als eine Möglichkeit, über den scheinbar nicht überwindbaren Status quo hinauszugelangen, schlage ich vor, dass Israel die besetzten Gebiete offiziell annektiert, die Palästinenser in dem so vergrösserten Israel akzeptieren, dass dieser Staat jüdisch bleibt, und sie im Gegenzug sämtliche bürgerlichen, wenn auch nicht die politischen Rechte erhalten.» So geht, im Gegensatz zu den Politikern und Historikern, ein Philosoph das Problem Nahostkonflikt an und fordert uns – mehr noch die Entscheidungsträger vor Ort – heraus, ihm in seinen Gedankengängen zu folgen.

Sari Nusseibeh ist der Mann, der diese andern Töne anschlägt. Er wurde 1949 in eine berühmte Palästinenserfamilie hineingeboren und ist seit 1995 Präsident der Al-Quds-Universität, der einzigen arabischen Universität in Jerusalem, an der er auch Philosophie lehrt. Von 2001 bis 2002 war er Statthalter der PLO in Jerusalem und seit Jahren ist er auf vielfältige Weise in den Friedensprozess im Nahen Osten involviert. 2003 wurde er mit dem Lew-Kopelew-Preis für Frieden und Menschenrecht und 2010 mit dem Siegfried-Unseld-Preis ausgezeichnet. 2008 erschien seine Autobiografie «Es war einmal ein Land», ein Klassiker der Nahostliteratur.

Abschied von der Zwei-Staaten-Lösung? Seit sechzig Jahren ist der Nahost-Konflikt ein Problem der Weltpolitik, für das während Jahrzehnten immer wieder neue Lösungen gesucht wurden, während Jahrzehnten die Zwei-Staaten-Lösung. Seit etwa zehn Jahren rücken, angesichts der zunehmenden Zerstückelung des Landes der Palästinenser durch die israelischen Siedler, mehr und mehr Wissenschaftler davon ab und der Einstaatenlösung zu. Nusseibehs Reflexion eines «Experiments mit offenem Ausgang», ist ein intellektuelles wie emotionales Plädoyer für eine humane Zivilgesellschaft in Nahost. Er argumentiert dialektisch und möglichst viele Gesichtspunkte einbeziehend auf dem Boden des alten Friedenskämpfers Uri Avneri und des neuen Historikers Ilan Pappe. Für mathematische Probleme gibt es manchmal Lösungen, so hörte er einmal von einem Wissenschaftler, in der Politik gibt es nur Kompromisse. So auch hier. «Es ist eine bedauerliche Tendenz im zeitgenössischen politischen Denken, die Welt satt unter dem Aspekt der „menschlichen Natur“ unter dem von Regionen, Kulturen, politischen Systemen oder Nationen oder ethnischen Mentalitäten zu betrachten.“ Weshalb er vehement Visionen und einen (säkularen) Glauben fordert, in welchen er zwei Ziele anstrebt. «Freiheit ist der Raum, den Menschen benötigen, um sich positiv zu entwickeln, und Gleichheit bedeutet, dass dieser Raum allen Menschen zur Verfügung steht». Anders gesagt, er fusst auf den Allgemeinen Menschenrechten und bezieht sich auf grosse Humanisten wie die Friedensaktivisten Abie Nathan und Azis Abu Sarah, den zeitweiligen Knesset-Abgeordneten Ahmad Tibis und immer wieder auf Mahatma Gandhi – und moniert: «Es ist höchste Zeit, dass beide Gruppen zu einem Gespür für das Menschliche zurückfinden.»

Eine neue Roadmap für den Frieden, ein Plädoyer für eine humane Zivilgesellschaft im Heiligen Land: beides liefert dieses gescheite und persönliche Buch von Sari Nusseibeh, das nur empfohlen werden kann.

Nusseibeh, Sari: Ein Staat für Palästina? Plädoyer für eine Zivilgesellschaft in Nahost, Kunstmann, München 2012. 206 Seiten