Pappe, Ilan: Die Idee Israel. Mythen des Zionismus *
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Am 22. Juli 2015 ist im Laika Verlag «Die Idee Israel. Mythen des Zionismus» von Ilan Pappe erschienen (original «The Idea of Israel - A History of Power and Knowledge», 2014). Darin beschreibt der wohl bekannteste neue israelische Historiker mit Aussagen von etwa hundert anderen Forschern die Gründungsmythen des Staates Israel, analysiert sie verfolgt deren Wirkungen auf die israelische Gesellschaft und Politik. Fünft führt er aus: Israel hat die Teilungsresolution von 1947 akzeptiert und der Schaffung eines palästinensischen Staates neben dem jüdischen zugestimmt; alle Palästinenser haben sich dem Grossmufti in Jerusalem in seinem Widerstand gegen jeden Friedensplan der UNO angeschlossen; die arabische Welt war 1948 entschlossen, den jüdischen Staat zu zerstören; die Palästinenser verliessen 1948 ihr Land, weil ihre Führer oder die der benachbarten arabischen Länder dies angeordnet hatten; Israel war der David, der 1967 wie durch ein Wunder den arabischen Goliath besiegte.
Im ersten Teil beschreibt Pappe «Israel als wissenschaftliche und fiktive Idee» und im zweiten «Israel als postzionistischer Augenblick». Mit dem Begriff Postzionismus werden politische Positionen und intellektuelle Konzeptionen bezeichnet, mit denen Kritik an den Werten und Grundsätzen des Zionismus geübt wird. Postzionisten sind Forscher, die es wagen, die Halbwahrheiten des Zionismus zu hinterfragen. «Es gibt zwei Möglichkeiten, jüdischer Antizionist in Israel zu werden», schreibt der Autor, «Entweder, man verabschiedet sich aus dem Kreis der Zionisten, weil man Zeuge einer im Namen des Zionismus durchgeführten Aktion wurde, die so entsetzlich war, dass man daraufhin die Gültigkeit der Ideologie überdenkt, oder man ist ein kritischer Denker, der nicht aufhört, die Konzepte und Prinzipien des Zionismus zu hinterfragen, und wird durch die inneren Paradoxien und Absurditäten der Ideologie veranlasst, sich allmählich einer universellen und antizionistischeren Lebensphilosophie zuzuwenden.» Das Spezifische dieses Buch ist, dass es keine neuen Fakten bringt - diese sind bekannt, sondern interessante Details und notwendige Ergänzungen derselben. Es bewegt sich auf einer Metaebene, ist eine grossartige Synopse der wichtigsten historischen und soziologischen Forschungsergebnisse über die Ideologie und der daraus abgeleiteten Politik im öffentlichen Leben, im Erziehungssystem und, erstmals beschrieben, in den Medien und den israelischen Film- und Fernsehproduktionen. Es geht also um keine neue Behauptung Pappes, die er nicht beweist, wie die erste im Internet veröffentlichte Rezension des Buches von Dietmar Herz, Professor für Vergleichende Regierungslehre an der Universität Erfurt, in Zeit online behauptet. Selbstverständlich kommt in dieser Kompilation zur Sprache, dass die Palästinenser aus dem aktuellen israelischen Diskurs gelöscht werden, dass die Araber für das bezahlen, was die Juden von den Nazis erlitten haben, dass die Palästinenser die Opfer einer kolonialistischen und repressiven Militärpolitik und eines umfassenden rassistisch-theologischen Ideologie wurden. In vieler Hinsicht meint Pappe, sei dieses Buch die «Autopsie des Postzionismus.»
«Die Idee Israels. Mythen des Zionismus» von Ilan Pappe ist für mich eine «Summa» der kritischen Auseinandersetzungen mit dem Zionismus. Es referiert mehr als hundert Ergebnissen namhafter Forscher, spricht uns auf einer Metaebene an mit sich bestätigenden oder sich widersprechenden Aussagen von Zionisten, Antizionisten, Postzionisten und Neozionisten. Wie wohl kein anderer hat Pappe, der in Tel Aviv Professor war, nach England floh und heute Professor für Geschichte und Direktor des Europäischen Zentrums für Studien über Palästina an der Universität Exeter ist. Ich bin der Meinung, Ilan Pappe hat die Übersicht und die Durchsicht, die nötige Distanz und Nähe, die Geschichte von Israel-Palästina, vor allem der letzten Jahrzehnte zu referieren. Siehe dazu auch: Pappe, Ilan und Hilal, Jamil (Hrsg.): Zu beiden Seiten der Mauer (https://hanspeter.stalder.ch/dossiers/palaestina-israel/pappe-ilan-und-hilal-jamil-hrsg-zu-beiden-seiten-der-mauer); Pappe, Ilan: Die ethnische Säuberung Palästinas (https://hanspeter.stalder.ch/dossiers/palaestina-israel/ilan-pappe-die-ethnische-sauberung-palastinas) Pappe, Ilan: Wissenschaft als Herrschaftsdienst (https://hanspeter.stalder.ch/dossiers/palaestina-israel/pappe-ilan-wissenschaft-als-herrschaftsdienst).
Seine überzeugenden Fakten lassen einen über weite Strecken hoffen. Sie müssten eigentlich jedermann einleuchten, dass Israel ein undemokratisches, rassistisches, auf eine ethnische Säuberung hinwirkendes Land ist, das sich damit damit gleich selbst aus der Völkergemeinschaft verabschiedet, und dass dieses Wissen die Weltöffentlichkeit aufklären könnte und müsste. Im letzten Teil, der die gegenwärtige Situation betrifft und den mächtigen Backlash darstellt, den wir fast täglich in den Medien belegen können, vertreibt einem jede Hoffnung auf eine Besserung oder gar auf Frieden in Israel-Palästina. «In den letzten Jahren haben sich bei den Versuchen der Wissenschaftler/Aktivisten, die Phänomene Zionismus und Israel (...) zwei Paradigmen herausgebildet, das kolonialistische Siedler-Paradigma und das Apartheid-Paradigma.» Und so werde ich als Leser, der seit mehr als einem Jahrzehnt die Analysen über Israel-Palästina verfolgt, je länger je verzweifelter und komme zu einem radikalen Schluss: die Mythen, auf denen Israel seine Politik baut - wie Mythen weltweit als Tatsachen verwendet - Lügen, in Palästina und Israel tödliche Lügen sind. «Dieses Buch wurde in der Hoffnung geschrieben, dass diese düsteren Szenarien nie, aber mit dem unbehaglichen Gefühl, dass sie bereits Wirklichkeit werden.» So beschliesst der Forscher sein grossartiges, aufklärerisch und dennoch berührendes Werk.
Pappe, Ilan: Die Idee Israel. Mythen des Zionismus. Laika Verlag. Hamburg 2015. 375 Seiten