Roy, Olivier: Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod. Der Dschihad und die Wurzeln des Terrors

Längst zucken wir nicht mehr zusammen, wenn wir von einem Terroranschlag hören, wir haben schon daran gewöhnt, dass dies eine Form des modernen Krieges ist: Nizza, Paris, Brüssel, Berlin, Sankt Petersburg, Stockholm, Barcelona, Hamburg, Oklahoma, London usw.

OlivierRey

(c) NZZ. Marko Djurica, Reuters

Wir fragen uns bloss noch, wo und wie der nächste Anschlag stattfinden wird? Um diese Entwicklung besser verstehen zu können, müssen drei zentrale Fragen geklärt sein: Was ist Terrorismus? Welche Ziele verfolgt er? Wie hängt er mit dem Islam zusammen? Und dafür hilft uns Olivier Roy in seinem neuen Buch «Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod» kenntnisreich und differenziert. Roy wurde 1949 geboren, ist Forschungsdirektor am Centre National de la Recherche Scientifique in Paris, lehrt als Professor am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz, hat zahlreiche Bücher über den politischen Islam und den islamischen Terrorismus geschrieben und gilt als einer der führenden Experten des Islamismus.

Der globalisierte Terrorismus ist keine neues Phänomen. Neu jedoch, so schreibt der Autor, dass Terrorismus und Dschihadismus sich mit dem Todeswunsch des Attentäters verbinden. Er warnt davor, die Ursache des Dschihadismus vor allem in der Radikalisierung des Islam zu sehen. Die Hinwendung zum Terrorismus ist vor allem Ausdruck einer ausgeprägten Todessehnsucht. Die Beziehung zum Tod geht mit einer weiteren Besonderheit einher: Die Attentate werden verübt, um bewusst einen Bruch mit der Elterngeneration herbeizuführen. Die Religion dient den Dschihadisten dabei zur Bemäntelung ihrer Motive, denn so können sie ihren Nihilismus in die Verheissung des Paradieses umdeuten. «Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod», so soll Bin Laden ihr Ziel umschrieben haben. Die Genialität des IS besteht darin, dass er den jungen Freiwilligen ein Narrativ zur Verfügung stellt, innerhalb dessen sie sich verwirklichen können. Roy macht weder eine angeblich gescheiterte Integrationspolitik, noch den Salafismus, schon gar nicht die Religion des Islam für den Terror verantwortlich. Terror ist «keine Folge der Radikalisierung des Islam, sondern der Islamisierung der Radikalität». Der «Hass auf die Väter» verbindet sich bei den Attentätern mit einer Revolte an sich, die keinem utopischen Konstrukt dient, auch nicht dem vom IS ausgerufenen Kalifat. Man habe es mit der «No-Future-Gewalt» einer Jugendbewegung zu tun, meint der Forscher, es sind «wahrhaft entwurzelte Menschen, die in einer Gegengesellschaft» leben.

Weiter schreibt er, ist Terrorismus eine Form der Kommunikation. Der Terrorist bzw. die Gruppe verfolgt mit jedem terroristischen Akt zwei Ziele: Er soll auf ihre Anliegen aufmerksam machen und Unterstützung dafür gewonnen werden. Wir, die Opfer, sind nicht das primäre Ziel dieser Kommunikation. Terroristen töten keine Amerikaner oder Europäer, weil sie unseren Lebensstil oder unsere Freiheit hassen oder uns darum beneiden. Die Opfer des Terrorismus bzw. der Gesellschaften, zu denen diese gehören, sind Mittel zu einem Zweck: Dschihadisten wollen eine grosse Bühne, keinen grossen Friedhof. Leider versprechen mehr Opfer auch eine grössere Bühne, was die Medien zu mehr Zurückhaltung verpflichtet. Zudem sollten sich nicht nur Militärs, sondern vermehrt Kommunikationsexperten mit dem Terrorismus befassen.

Dschihadisten sind für den Autor gewalttätige Radikale, keine religiösen Fundamentalisten. Sie wurden nicht durch eine (falsche) Koran-Lektüre radikal. «Sie sind radikal, weil sei radikal sein wollen.» Für diese Radikalität liefere der IS einen idealen Bezugsrahmen: Er inszeniert sein Tun als apokalyptisches Szenario, mit dem der terroristische Selbstmord zur messianischen Tat wird. Er bietet ein Angebot an Sinnhaftigkeit, das sich paradoxerweise gerade durch den Tod und das Töten erfüllt. Das «systematische Streben nach dem eigenen Tod» ist für Roy das Neue des Terrors, das durch Zerstörung die Apokalypse beschleunigen will. Das Vorhaben des IS nennt er «wahnsinnig», was gerade für «grössenwahnsinnige junge Leute» attraktiv wird. So richtig der Hinweis, dass der Koran kein Terrorlehrbuch ist, so vorschnell die Annahme, dass der Islam für die Radikalen ein austauschbarer Rahmen ihres Tun darstellt. Dass die Radikalen durch «die Praxis eines guten, gemässigten Islam» geheilt werden könnten, hält er für absurd.

«Die Radikalen sind keine Utopisten, sondern Nihilisten, weil sie Chiliasten sind.» (Chiliasmus heisst der Glaube an die Wiederkunft Christi und der Beginn seines tausendjährigen Reiches.) Der Nihilismus, die Nichtigkeit des Lebens, ist ein fester Bestandteil ihres Mystizismus: ihre Rückkehr zu Gott – was, leicht zugespitzt, auch der evangelikalen Auffassung ihrer Nichtigkeit des Lebens entspricht. «Der Tod allein sichert den Eintritt ins Paradies. Man hält nach Vorzeichen Ausschau, anstatt eine gerechte islamische Gesellschaft zu errichten, man bringt sich um, weil die Apokalypse sowieso alles vernichten wird, was der Mensch geschaffen hat. Die Faszination des Todes ist deshalb eng mit dem Ausblick auf die Apokalypse verbunden, weil man nicht daran glaubt, dass heitere Tage kommen werden, und weil Krieg, Tod und Jüngstes Gericht die einzige Zukunftsperspektive sind – zunächst für einen selbst, dann für die gesamte Menschheit.»

Roy, Olivier: Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod. Der Dschihad und die Wurzeln des Terrors. Siedler Verlag, München 2917, 172 Seiten