Sand, Shlomo: Die Erfindung des jüdischen Volkes *

Gibt es ein jüdisches Volk? Nein, sagt der israelische Historiker Shlomo Sand und stellt damit Israels Gründungsmythos radikal in Frage. Die Vertreibung durch die Römer? Den Exodus? Die Rückkehr nach 2000 Jahren ins Land der Väter? All das sind Erfindungen europäischer Zionisten im 19. Jahrhundert, schreibt er weiter in seinem aufsehenerregenden Buch «Die Erfindung des jüdischen Volkes», das 2011 in Israel 19 Wochen lang auf der Bestsellerliste stand und heftige Kontroversen auslöste. Mit seiner Ent-Mythologisierung, die er mit andern Neuen Historikern teilt, provoziert er, und ein Heer von Wissenschaftlern und «Wissenschaftler», viele davon «Israelpreisträger», leugnet all dies, ohne wissenschaftliche Beweise, bloss mit Belegen aus der Thora und der religiösen Zusatzliteratur.

Das israelischen Establishment und die Zionisten stempeln Sand als «Antisemiten» ab, obwohl er eigentlich konsequent dafür arbeitet, das Judentum in seinem Wesen zu bewahren. Er zeigt Israel, was zu tun wäre, um in ferner Zukunft konkrete politische Lösungen des Nahostkonfliktes überhaupt nur andiskutieren zu könnten. Die Juden müssten endlich zugeben, dass sie keine Ethnie, sondern eine Religion sind, deren heilige Bücher Lebenshilfen, Glaubenslehren und Ethikkonzepte enthalten, in keiner Weise jedoch als Landkarten und Grundbücher für die aktuelle Ausgestaltung des Landes Israel gelesen werden dürfen. In einer akribischensand.jpgAnalyse mit nicht weniger als 560 Belegen widerlegt der Autor den zionistischen Mythos, dass die Juden eine intakte Ethnie seien, deren Ursprünge im historischen Israel liegen. Jeschajahu Leibowitz ergänzt ihn, indem er schreibt, «dass Israel ein säkularer Staat sei, der in wilder Ehe mit der Religion lebe». Neben der Genetik, Biologie und Medizin versuchen neu auch Juristen die Fragen der Historiker und Archäologen zu beantworten. Selbst prominente Vertreter der Zunft können (oder wollen) nicht akzeptieren, dass der Begriff des «jüdischen und demokratischer Staates Israel» ein Oxymoron, nach Duden eine Zusammensetzung zweier sich widersprechender Begriffe in einem Additionswort ist. Entgegen anderslautender Behauptungen ist Israel auch gar keine Demokratie, sondern eine Ethnokratie, wie Sand betont. Indem Israel jedoch diese Kritik nicht annimmt und weiter an seinen Mythen festhält, bewegt es sich, so meine ich, auf eine Welt ausserhalb der deklarierten Menschenrechte. Und die Menschen schlüpfen in die seit Jahrhunderten bekannte Opferrolle, in welcher sie nicht kritisiert und bestraft werden dürfen – was schliesslich auch für Israel selbst höchst verhängnisvoll werden dürfte.

Shlomo Sand schliesst sein Buch, das überzeugend argumentiert, doch Erfahrungen im Umgang mit wissenschaftlichen Texten und viel Vorwissen voraussetzt, versöhnlich und konstruktiv: «Wenn der Grossteil der nationalen Vergangenheit ein Traum war, warum sollten wir dann nicht damit anfangen, uns eine neue Zukunft zu erträumen, ehe sie zum Alptraum wird?» – In der Zwischenzeit, 2012, ist als Fortsetzung «Die Erfindung des Landes Israel. Mythos und Wahrheit» erschienen.

Sand, Shlomo: Die Erfindung des jüdischen Volkes. Israels Gründungs-Mythos auf dem Prüfstand. List-Verlag, Berlin 2011, 505 Seiten