Schnieper, Marlène: Nakba - die offene Wunde *
Nakba ist die Katastrophe, die 1948 mit der Beendigung des britischen Mandats in Palästina und mit der Staatsgründung Israels über die arabischen Einwohner des historischen Palästina hereingebrochen ist. 750'000 Menschen haben in diesem Zusammenhang Hab und Gut und Heimat verloren, wie das UNO-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge beim Beginn seiner Arbeit 1950 registriert hat. Mit ihren Kindern und Kindeskindern sind es heute fünf Millionen, ein Drittel in Lagern im Libanon, in Jordanien und Syrien, im Gazastreifen und in der Westbank inklusive Ostjerusalem lebend.
Die Journalistin Marlène Schnieper, 1946 in Sursee geboren, heute freischaffende Nahostkorrespondentin, leistet mit diesem Werk ein wichtiges Stück Aufarbeitung dieser lange totgeschwiegenen, noch heute in Israel, den USA und Europa verharmlosten Geschichte des palästinensischen Volkes. Anhand historischer Dokumente und Analysen vornehmlich der israelischen Neuen Historiker wie Benny Morris, Ilan Pappe oder Tom Segev schildert sie: Wie es zur Nakba kam, die britischen Mandatsträger beider Seiten verhängnisvolle Versprechen abgaben, jüdische Einwanderer das historische Palästina als «Land ohne Volk für ein Volk ohne Land» beanspruchten und die übrige Welt die Staatsgründung für die Überlebenden des Holocaust vorantrieb.
Die Nakba hat, wie aus Schniepers Erläuterungen hervorgeht, viel mit Europa zu tun, was für mich heissen könnte, dass Europa auch zur Lösung des Nahostkonflikts das Seine beizutragen hätte. Gerade deshalb scheint mir eine Aufklärung, wie sie hier geleistet wird, auch bei uns politisch wichtig: im Geschichtsunterricht der Schulen, bei der Information der Öffentlichkeit und für das Handeln der Politiker und Wirtschaftsführer, wo immer noch Mythen die Historie ersetzen, mit Israel militärisch kooperiert und mit unserem Konsum die Apartheid in Israel/Palästina unterstützt wird.
Schnieper beschreibt im ersten Teil des Buches die Zeit vor und nach 1948 aus palästinensischer Sicht, doch vor allem auf den Erkenntnissen israelischer Wissenschaftler fussend. Im zweiten Teil erzählt sie im Sinne der «Oral History» und ergänzt durch Belege der exakten Wissenschaft, die Lebensgeschichten von sechs Menschen, die damals die gewaltsamen Ereignisse, die Vertreibung und Zerstörung ihrer Häuser und Dörfer selbst erlebten oder von ihren Angehörigen und Freunden erzählt bekommen haben. Diese Sequenzen erlebter Geschichte «umranken» sozusagen das «Gerüst» der chronologisch erzählten Geschichtsforschung. Den Abschluss bildet eine Chronologie der Ereignisse vom 29. August 1897 bis 3. Januar 2012, Jahr um Jahr und z.T. Tag um Tag, ergänzt durch informative Karten, Fotografien, Begriffsklärungen, einer Literaturliste und einem Personenregister. Mit all diesen Beiträgen zusammen ersetzt «Nakba – die offene Wunde» eine kleine Bibliothek zum Nahostkonflikt.
Das fundiert recherchierte und spannend geschriebene Buch ist politische Aufklärung der Sonderklasse, die auch bei uns dringend notwendig, d. h. Not wendend ist.
Marlène Schnieper: Nakba – die offene Wunde. Die Vertreibung der Palästinenser 1948 und die Folgen. Rotpunktverlag, Zürich 2012, 380 Seiten