Strenger, Carlo: Israel. Einführung in ein schwieriges Land *

Staat der Juden, Land der Rätsel: Einerseits eine hochmoderne Gesellschaft mit einer lebensfreudigen, liberalen Kultur, geht Israel gegenwärtig durch eine der schwersten Krisen seit seiner Gründung.

Strenger Carlo Author Photo Critique of Global Unreason 2010

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Der Friedensprozess liegt auf Eis, das Land ist isoliert, im Alltag leben Juden und Araber mit wechselseitiger Verachtung nebeneinander, und der eskalierende Kampf zwischen religiösen und säkularen Juden bedroht die Grundfesten der israelischen Gesellschaft. Ausgehend von Beobachtungen und Szenen des Alltags und vertieft durch Auseinandersetzung mit der Fachliteratur, eröffnet uns Carlo Strenger Einsichten in den Alltag und die Mentalität Israels, wach und engagiert, ohne Idealisierung und Dämonisierung. Er zeigt Israel als zerrissene Gesellschaft, die die grundlegenden Probleme der Identität nicht gelöst hat. Er versucht neue, zeitgemässe Antworten auf drängende Fragen des jungen Staates zu geben: Wie soll das Verhältnis von Staat und Religion, zwischen westlicher Weltoffenheit und nahöstlicher Tradition gestaltet werden? Wie können die Spannungen zwischen Einwanderungsgruppen aus grundverschiedenen Kulturen gelöst werden? Seine Betrachtung, die zugleich ein essayistischer Reisebegleiter ist, eröffnet einen umfassenden Blick auf die Widersprüche Israels, aber auch auf die Möglichkeit einer Wahrnehmung des Landes jenseits von Schuld, Gegenschuld und dem Kampf der Monotheismen.

Der in der Schweiz geborene und heute in Tel Aviv lehrende Psychologe Carlo Strenger hat mit diesem Buch den kühnen Versuch gewagt, mit der Psychohistorie Einsichten zu vermitteln in die gewachsene Mentalität des Landes und sich damit jenseits der weltweit eingefahrenen Wahrnehmungen Israels zwischen Dämonisierung und Idealisierung erfolgreich zu verorten. Dass dabei auch der Islam und das Christentum nicht unerwähnt bleiben, ist eine Qualität des Buches. Dass Strenger dazu gekonnt Archäologie, Antropologie, Religionssoziologie und Belletristik heranzieht, bereichert den Diskurs.

Der Autor plädiert für die «mentale Abrüstung der Projektionen» auf allen Seiten, was er nachvollziehbar und transparent darstellt. Dabei versucht er, das menschliche Bedürfnis nach «Lebenssinn, sowohl der Quell der höchsten menschlichen Leistungen als auch Antrieb alles menschlichen Bösen» nicht zu übersehen. Diese Kategorie taucht in seinem Buch immer wieder auf. Er kommt zum Schluss, dass nur Menschen und deren Politik jenseits des Erlösungsbedürfnisses, die zudem mit der Unvollständigkeit der menschlichen Existenz Frieden geschlossen haben Israel und dem Nahen Osten Frieden bringen kann. «Israel. Einführung in ein schwieriges Land» ist ein Versuch, der Hoffnung vieler aufgeklärter, universalistisch denkender Menschen Ausdruck zu geben, «dass Israel endlich der Stimme der Vernunft folgen wird». Immer wieder aber beschleicht auch ihn wie seine Freunde der verzweifelte Gedanken, dass die nationalen Mythen, die er ausführlich beschreibt, so schwer aus dem Köpfen der Menschen herauszubekommen sind. Als einer der schwerwiegendsten identifiziert er den Mythos von «Israel als dem auserwählten Volk».

Im ersten Teil mit dem Titel «Ein zerissenes Land» geht es um die unterschiedlichen Bevölkerungs- und Religionsgruppen in Israel. Von der zionistischen Rechten, den nationalreligiösen bis zu den ultraorthodoxen Juden. Die unterschiedlichen Gruppen werden in ihrem Selbstverständnis und in ihrer Wirkung geschildert und auch die durch ihre Ideologie entstehenden Probleme und Konflikte nicht beschönigt. Fazit: Israel hat eine zerissene Identität. Dies muss man verstehen, will man die politischen und religiösen Auseinandersetzungen im Land und die Politik gegen die Palästinenser und die umliegenden Staaten begreifen. Im Anhang bringt der Autor, neben 90 Anmerkungen, auf neun Seiten eine nützliche Übersicht zum Nachschlagen.

Im 2. Teil, «Israel und das "jüdische Problem"», geht es um die geschichtliche Dimension. Das jüdische Leben in der Diaspora, die Enstehung des Staates Israel, das europäische Schuldgefühl gegenüber den Juden und Israel, Israel als Hassobjekt der Linken, Israel und die Menschenrechte, der enttäuschte Friedensprozess, die Normalisierung der Juden und die Enttäuschungen auf allen Seiten. Bei Letzterem nimmt die 2. Intifada einen grossen Raum ein. Sie führte dazu, dass der einstmals starke Anteil der liberalen und friedenswilligen Israelis stark dezimiert ist, was sich nicht zuletzt in den Wahlerfolgen der Rechten mit Netanjahu niedergeschlagen hat.


Am Ende seiner Explorationen bleibt der Autor skeptisch, doch nicht ohne Hoffnung: «Wann Israels politische Bewegung nach rechts tatsächlich zu einem Ende kommen wird und das Pendel in eine liberale, freiheitsliebende Richtung schwingen wird, vermag ich trotz der jüngsten innenpolitischen Entwicklungen nicht zu sagen. In den nächsten Jahren wird Israel aufgrund der Unfähigkeit und des Unwillens der rechten Regierungen, einen palästinensischen Staat anzuerkennen, wohl weiter auf Kollisionskurs mit den universalistischen Werten des Westens sein. Meine Hoffnung ist, dass meine Landsleute eines Tages die kosmopolitischen Aspekte der jüdischen Geschichte nicht mehr als Grund zur Scham, sondern als ein Versprechen auf die Zukunft betrachten können.» Der Autor überlässt es den Lesern, aus den Beobachtungen und Analysen, selbst dem schockierenden Kapitel «Jenseits des Jerusalemsyndroms», persönliche Schlussfolgerungen zu ziehen. Er wird es wohl auch Lesern wie mir zugestehen, dass sie selbst seinen zaghaften Bemerkungen der Hoffnung nicht zu folgen vermögen. Die Frage «War Israel ein Fehler?» und viele andere Aussagen im Blick auf eine mögliche katastrophale Zukunft, die auch andere Autoren schon beschrieben haben, stehen wie ein Meneteke im Raum und machen mir Angst.


Wer jenseits von eingefahrenen Vorurteilen und Ressentiments die Situation in Israel/Palästina und im Nahen Osten verstehen will, dem sei dieses spannende Buch warm empfohlen, das mit grosser Eloquenz und Faktenwissen geschrieben ist.

Strenger, Carlo: Israel. Einführung in ein schwieriges Land. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2011, 5. Auflage 2015, 173 Seiten