Verleger, Rolf: Hundert Jahre Heimatland? Judentum und Israel zwischen Nächsenliebe und Nationalismus *

War die Gründung des jüdischen Staats Israel in Palästina 1948 die Lösung der Judenfrage? War nicht von vornherein klar, dass dies nur durch Verteibung und Enteignung der arabischen Bevölkerung zu erreichen war?

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(c) Westend Verlag

Dieser Konflikt fand und findet nicht nur vor Ort statt, sondern wird auch hierzulande ausgetragen, in den jüdischen Gemeinden ebenso wie in der bundesdeutschen Politik und etwas bescheidener in Aktionen und Diskussionen auch in der Schweiz. Können jüdische Bürger Europas gleichzeitg den in ihren Heimatländern geltenden Menschenrechten und dem Staat Israel gegenüber loyal sein? Verzweifelt über israelische Menschenrechtsverletzungen, verblüfft über das Vogel-Strauss-Verhalten von Politikern und aufgrund der jüdischen Tradition seiner Familie sucht Rolf Verleger, der «kritische Jude vom Dienst», wie ihn «Die Jüdische Allgemeine» schon genannt hat, die Ursachen der heutigen Situation. Und er spürt verlorengegangenen Alternativen nach: Im Judentum des Zarenreichs, wo Religiosität, Sozialismus und Nationalismus Wurzeln schlugen, im Zusammentreffen dieser Strömungen mit dem britischen Empire, der Furcht Europas vor dem «jüdischen Bolschwismus» und den Naziverbrechen.

Journalistisch gekonnt führt uns der Autor in die komplexe Materie ein, indem er im 1. Teil persönlich mit seiner Laudatio auf Daniel Barenboim beginnt und dabei ausleuchtet, wie die Bedeutung jüdischer Persönlichkeiten mit hinterhältigen Gemeinheiten verdrängt wird. Weiter referiert er über die Boykottierung eines andern Laudators, nämlich jener von Uri Avnery, durch Berlins Oberbürgermeister Klaus Wowereit. Weiter geht er an das Durchleuchten des Zentralrates der Juden in Deutschland. Eine nützliche Sensibilisierung für das Thema bei uns!

Es folgen der 2. und 3. Teil mit den Überschriften «Nationalismus und Nächstenliebe in jüdischer Tradition» und «Das Judentum aus dem Osten und das Empire aus dem Westen». Grossartig diese faktenreichen, klugen Analysen der geschichtlichen und religionsgeschichen Entwicklung. Diese zusammenzufassen, ist unmöglich; man muss sich in sie vertiefen. Der Autor hält hier ein leidenschaftliches Plädoyer für die bewahrenswerte jüdische Tradition und die unveräusserlichen Rechte aller Menschen. Der Text, mit zahllosen Anmerkungen, empfiehlt sich für jede Geschichte des Judentums über die Jahrhunderte!

Im 4. Teil steuert Verleger profund und detailreich in die Jetztzeit. Seine Kapitel «Antisemitismus und Zionismus», «Doppelte Loyalität», «Bevorzugung von Juden gegenüber Einheimischen in Palästina» und «Das Wesen des Judentums» sind spannend. Vor allem das Schlusskapitel, das zahllose Bücher ersetzt und ausgezeichnet als Nachschlagewerk zum Verständnis der aktuellen Nachrichten dient. In meinen Augen etwas vom Wertvollsten, was über das Judentum geschrieben wurde! Rolf Verleger, Jahrgang1951, Psychologe, bis 2017 Professor an der Universität Lübeck, verbindet hier vortrefflich, biografisch bedingt, Innen- und Aussenansicht.

Im Klappentext situiert sich den Autor wie folgt: «Die von der nationalreligiösen Ideologie Verblendeten werden dieses Buch "antisemitisch" nennen. Hoffentlich! Wenn nicht, wird es mir nicht gut gelungen sein. Getroffen fühlen sollen sich diejenigen – Juden wie Nichtjuden – die in Wort und Tat dagegen verstossen, dass alle Menschen gleich erschaffen sind und dass alle Menschen unveräusserliche Rechte haben. Dies ist die jüdische Tradition, die wir bewahren sollten. So bin ich erzogen: "Im Ebenbild Gottes erschuf er den Menschen"

Verleger, Rolf: Hundert Jahre Heimatland? Judentum und Israel zwischen Nächsenliebe und Nationalismus, Westend Verlag, Frankfurt a.M. 2017, 255 Seiten