Zertal, Idith: Nation und Tod
Die Autorin Idith Zertal ist Professorin für Geschichte am Institut für Jüdische Studien an der Universität Basel und Dozentin an der Hebräischen Universität in Jerusalem, war Gastprofessorin an der Universität von Chicago und an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Ihr 2003 auf Hebräisch, 2003 erstmals auf Deutsch und jetzt neu mit einem Vorwort von Tony Judt versehenes Werk behandelt, sehr vereinfacht gesagt, folgende Fragen: Welche Rolle spielen die Opfer des Holocaust im öffentlichen Leben Israels? Welchen Anteil haben sie an der Selbstwahrnehmung und politischen Kultur des Landes? Wie, wann und zu welchen Zwecken erinnern die Israeli den Holocaust?
Dazu liefert Zertal nicht bloss persönliche Meinungen, sondern stellt eine akribische und detailreiche Analyse anhand umfangreicher Literatur (mit 152 Fussnoten), zentraler Texte der israelischen Geschichte sowie zahlreicher neuer und bislang unbekannter Dokumente, mit denen sie die folgenschwere Präsenz der Holocausterinnerung in der politischen Kultur Israels nachweist. Dabei geht sie der Frage nach, wie die entscheidenden Ereignisse des «kurzen zionistischen Jahrhunderts» von der israelischen Öffentlichkeit aufgefasst und tradiert wurden: das jüdische Verhalten während des Holocaust und der Aufstände in den Gettos; die staatlich organisierte Ausgestaltung des Gedenkens an den Holocaust in Israel; die Gerichtsverfahren gegen Holocaustüberlebende, die der «Kollaboration» mit den Nazis beschuldigt wurden; der Einfluss des durch den Eichmann-Prozess erzeugten Diskurses auf das Sicherheits- und Machtverständnis Israels im Sechstagekrieg. Höchst spannend auch die Beschreibung der Rezeptionsgeschichte des tiefsinnigen und gleichzeitig hochumstrittenen Buches «Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen» von Hannah Arendt.
In diesem Werk geht es nicht um die Bekanntmachung neuer Tatsachen und Tatbestände, die durch die Neuen Historiker weitgehend bekannt sind, sondern um das Denken, das Bewusstsein, das Narrativ der heutigen Israeli, also die Ausformung der israelischen «Identität» (S. 272). Wie kam es dazu, dass Moshe Dayan in einer Grabrede argumentieren konnte: «Die Millionen von Juden, die vernichtet wurden, weil sie kein Land hatten, sehen uns aus der Asche der israelischen Geschichte zu und befehlen uns, zu siedeln und ein Land für unser Volk zu errichten» (S. 279)? Weshalb konnte Ben Gurion sagen, «wir wollen nicht ins Getto zurückkehren. Wir wollen nicht, dass die arabischen Nazis kommen und uns abschlachten» (S. 268)? Wie konnte der Dichter Chaim Guri schwärmen, aus der «Asche des Holocaust» sei Israels Stärke erwachsen (S. 261)?
Als Erstes möchte ich das Buch wärmstens empfehlen: Idith Zertals Werk ist notwendig für die weiterführende und vertiefte Diskussion des jüdisch-arabischen Konfliks. Zweitens muss ich jedoch einschränken: Das Buch ist schwierig zu lesen, setzt Vorwissen über das Einst und Jetzt der Situation in Israel/Palästinas voraus und verlangt eine intensive Auseinandersetzung. Ich wünschte mir, dass die Quintessenz dieses Werk für ein breiteres interessiertes Publikum in einer verständlichen Form übersetzt wird, und ich vermisste wenigstens in einem Schlusskapitel eine Zusammenfassung. Die Rezensionen von Moshe Zimmermann und Helmut König, zweier Spezialisten, gehen auf weitere Details des wichtigen Werkes ein:
http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/literatur/erinnerungspolitik_1.13543652.html
Zertal, Idith: Nation und Tod. Der Holocaust in der israelischen Öffentlichkeit. Wallstein Verlag, Göttingen 2011. 364 Seiten