Mustafa, Imad: Der Politische Islam
Imad Mustafa, anlässlich der Preisverleihung zum Grimme Online Award 2013. Foto: Grimme-Institut/Jens Becker
Er schildert die Entstehungsbedingungen und das religiös-ideologische Selbstverständnis islamischer Bewegungen und Parteien. Denn seit etwa dreissig Jahren machen sich im Nahen Osten Parteien und Massenbewegungen bemerkbar, die sich explizit auf den Islam als Richtschnur für politisches Handeln beziehen. Vom Westen misstrauisch beäugt und in der Regel als Rückfall in die Vormoderne gewertet, haben islamistische Parteien im sogenannten Arabischen Frühling jedoch breite Zustimmung in der Bevölkerung erfahren und sind in Tunesien und Ägypten kurzzeitig Regierungsparteien geworden. Der Autor stellt die libanesische Hizbollah, die Hamas in Palästina und die beiden ägyptischen Parteien al-Nur und FJP vor. Der heutige politische Islam ist, so fasst er zusammen, kein Rückfall ins Mittelalter, sondern ein Kind der islamischen Moderne.
Heute könne man trotz bestehender Unterschiede und Unklarheiten davon ausgehen, dass alle Gruppen politisch für eine parlamentarische Demokratie, Gewaltenteilung, Schutz der Bürgerrechte und gesellschaftliche Partizipation beider Geschlechter eintreten, dass die berüchtigten Scharia-Strafen keine Rolle spielen und Zwang in Glaubensdingen verpönt sei. Islamisch sei vor allem die Hoffnung auf eine langfristige Besserung der Gesellschaft durch innere Mission, durch Vertiefung des Glaubens der Muslime selbst. Hier möchte ich fragend eingreifen; denn mir scheint jede Verallgemeinerung und jede Verwendung des Islam als verbindliche Referenz fragwürdig. Was ist der Islam? In meinen Augen gibt es ihn ebenso wenig wie das Christentum und das Judentum. Zu diesem Schluss komme ich angesichts der Hunderten von sich widersprechenden Aussagen über jede dieser Religionen. Helfen kann ich mir nur mit Dschaelal e-din Rumis klugem Satz: «Die Wahrheit ist ein Spiegel, der vom Himmel gefallen ist, er ist in tausend Stücke zersplittert, jeder besitzt einen kleinen Splitter und glaubt, die ganze Wahrheit zu besitzen.»
Besonders interessante Erkenntnisse bringt wohl vielen das Kapitel «Sozioökonomische Positionen», in welchem die Fragen des Eigentums, der Gerechtigkeit und Fürsorge als Leitlinien islamischer Ökonomien referiert werden: Privateigentum als Gunst Gottes, eine islamische Alternative für Wirtschaft, Wachstum, Wettbewerb und Rendite, Islamic Banking und die Anti-Trust-Gesetze. Mustafa geht mit seinem Stoff fair und kenntnisreich um und beschreibt schwierige Sachverhalte am Schnittpunkt von Theologie, Staatsrecht und Politik differenziert und dennoch verständlich. Vieles, was im Nahen Osten geschehen ist und geschieht, begreift man mit diesem Buch besser. Dazu möchte ich jedoch auf das Kleingedruckte im Impressum verweisen: «© 2013, 2. unveränderte Auflage 2014». Das heisst doch, dieses Buch kann nur beschränkt für Antworten auf die aktuellen Ereignisse rund um den ISS herangezogen werden. Dafür muss anderswo gesucht werden, zum Beispiel bei Loretta Napoleonis «Die Rückkehr des Kalifats. Der Islamische Staat und die Neuordnung des Nahen Ostens» Doch interessante Erklärungen gibt Imad Mustafa über die Entwicklung des Politischen Islam im 19. und 20. Jahrhundert. Persönlich gelernt habe ich bei der Lektüre, dass der Politische Islam vor allem eine Antwort auf die soziale Ungerechtigkeit, den Kolonialismus und den Kapitalismus, der nicht zuletzt ein Ergebnis des Christentums ist, wie es Max Weber in «Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus» formuliert. Für mich ein Hinweis, dass das Christentum, vor allem in den krankhaften Formen der Finanzwirtschaft ein Grund sein könnte für die ebenso krankhaften Formen des Islamismus.
«Der Politische Islam» von Imad Mustafa ist ein kluges Buch, vor allem zur Erklärung der Geschichte des Islam. «Geduld, Beharrlichkeit und Optimismus sind auf Seiten der Völker des Nahen Ostens Grundvoraussetzungen, um dauerhafte historische Veränderungen herbeizuführen. Ob die islamischen Parteien dabei die Hauptrolle übernehmen werden, hängt von ihrer Fähigkeit ab, sich als Massenorganisationen den Forderungen der Menschen zu stellen und diese auch umzusetzen. Das Epochenjahr 2011 bildete erst den Anfang dieses tiefgreifenden Prozessen.» Mit diesen Worten beschliesst der Autor sein Buch, mit ihnen möchte auch ich es tun, jedoch mit einigen zusätzlichen Zweifeln, heute, im Mai 2015.
Mustafa, Imad: Der Politische Islam. Zwischen Muslimbrüdern, Hamas und Hizbollah. Pro Media Verlag, Wien 2014², 230 Seiten