Niehoff, Mirko (Hrsg.): Nahostkonflikt kontrovers *

Mirko Niehoffs Sammelband «Nahostkonflikt kontrovers» bietet eine interessante Gesamtschau über das Thema, die viele andere Bücher ersetzt.

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«Audiatur et altera pars» (Gehört werde auch der andere Teil), dieser Grundsatz des römischen Rechts kommt heute in fast sämtlichen Bereichen des täglichen Lebens zur Anwendung. Das Buch «Nahostkonflikt kontrovers», das Mirko Niehoff herausgegeben hat, wendet dieses Prinzip in vorbildlicher Weise bei einem Thema an, das diese Sicht dringend benötigt. 2013 haben es der evangelische respektive katholische Theologe Peter Bingel und Winfried Belz in «Israel kontrovers. Eine theologisch-politische Standortbestimmung» ansatzweise und partiell versucht. Mirko Niehoff geht in seinem Werk viel weiter, indem er insgesamt 28 Experten aus den verschiedenen Lagern zu Worte kommen oder von andern vorstellen lässt. Um es vorwegzunehmen: Dieses Buch ist in Konzept und Ausführung rundum gelungen.

Der Nahostkonflikt ist ein hochkomplexes und seit Jahrzehnten ungelöstes politisches Problem von globaler Bedeutung. Weltweit wird kontrovers darüber diskutiert, worin die Grundproblematiken des Konflikts bestehen, wie Rollen und Verhalten der Akteure zu bewerten sind und der Konflikt gelöst werden könnte. Hinzu kommt, dass er als Austragungsort und Katalysator diverser individueller und kollektiver Auseinandersetzungen, politischer und moralischer Befindlichkeiten, gesellschaftlicher und ideologischer Denkmuster und verschiedener Narrative dient.

Politische Bildung und Publizistik

Die politische Bildung und die Publizistik haben sich sowohl mit den verschiedenen Perspektiven als auch mit den zentralen Kontroversen zumindest exemplarisch auseinanderzusetzen. Sie müssen die Positionen im Nahostkonflikt kennen, um sie reflektieren zu können. Fachleute in der Bildungsarbeit und in Praktiken der Publizistik erhalten in diesem Band das dazu notwendige Material für diese Herausforderung. Das differenzierte, aber dennoch gut lesbare Buch ist für ein Publikum, das zugegebenermassen bereits ein überdurchschnittliches Vorwissen besitzt, hier jedoch zahlreiche neue Präzisierungen, Hintergründe, Argumente und Gegenargumente sowie neue Perspektiven erhält. Manch anderes Buch macht es überflüssig.

Nach meiner Meinung empfiehlt sich der Einstieg in die Lektüre mit dem Kapitel «Zehn Fragen und zehn Antworten von Nahostexperten/-innen». Es sind dies Dr. Margret Johannsen vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, Professor Dr. Moshe Zuckermann vom Cohn Institut for the History and Philosophy of Science and Ideas in Tel Aviv, Stephan Grigat, Lehrbeauftragter für Politikwissenschaft an der Universität Wien, Dr. Steffen Hagemann, wissenschaftlicher Mitarbeiter in Politwissenschaft an der TU Kaiserslautern, die israelisch-deutsche Historikerin Dr. Tamar Amar-Dahl, der Islamwissenschaftler Dr. Götz Nordbruch, tätig im Bereich der politischen Bildungsarbeit – allesamt keine Grundlagenforscher, sondern exzellente Analytiker und Interpreten des Nahostkonflikts.

Antworten aus 18 Perspektiven

Nach der Einleitung des Herausgebers folgt eine Thematisierung in Bezug auf Deutschland, was zum Teil auch für die Schweiz gilt. Dann folgt der Hauptteil «18 Perspektiven auf den Nahostkonflikt, Israel und/oder die Palästinenser». Was Niehoff hier an Prominenz versammelt hat, ist beeindruckend. Die einzelnen Referenten haben unter seiner Leitung auf 8 bis 13 Seiten differenzierte und detailreiche Präsentationen der bekannten Persönlichkeiten verfasst. Folgende Autoren und Autorinnen werden mit ihren Aussagen zum Nahen Osten vorgestellt: der Philosoph und Mahner Martin Bube, die Publizistin und Theoretikerin Hannah Arendt, der Schriftsteller Jean Améry, die Philosophin Judith Butler, der palästinensische Literaturwissenschaftler Edward Said, der Rechtsanwalt Alan Dershowitz, die Journalistin Caroline Glick, die israelische Soziologin Eva Illouz, die Historiker Yaacov Lozowick und Gershom Gorenberg, die Politiker Tzipi Livni und Naftali Bennet von den Israelis und Ahmad Tibi, Mustafa Barghouthi und Sari Nusseibeh von den Palästinensern, die Friedensaktivistin Sumaya Farhat-Naser und die Politiker Mahmud Abbas und Ismail Haniyeh.

Ein Muss für Nahost-Interessierte

Grossartig und überzeugend ist dieses Kompendium mit seinen Analysen und Deutungen des Nahostkonfliktes. Mir ist kein Buch bekannt, welches so umfassend und dennoch exakt darüber referiert. Es liefert von verschiedenen Seiten Ansätze und Vorschläge, wie es im Nahen Osten Frieden geben könnte und warum es bis heute keinen gab. Dieses Buch fasst alles Wesentliche zusammen, was zum Thema zu sagen ist. Das heisst nicht, dass die Grundlagenforscher nicht nötig wären, die Fakten der Neuen Historiker wie die zahllosen Erlebnisberichte werden vorausgesetzt und verwendet. Zusammengefasst: Das von Mirko Niehoff herausgegebene Buch «Nahostkonflikt kontrovers. Perspektiven für die politische Bildung» ist ein absolutes Muss für Menschen, die wissen wollen, was im Nahen Osten abläuft, gedacht, geplant und verworfen wird. Ich behaupte dies auf dem Hintergrund meiner 183 besprochenen und 80 ausgewählten Bücher zum Thema.

Dass die Politiker, die die Politik machen, die hier formulierten Vorschläge zu einem Frieden nicht zur Kenntnis nehmen, ist für mich die erste traurige Bilanz. Die Tatsache, dass der Nahostkonflikt mit den dort lebenden Menschen heute auf keiner Agenda der Weltmächte mehr steht, die Zweite. Dass es nach den zusammengefassten Aussagen des Buches in naher Zukunft keine Hoffnung auf Frieden gibt, die Dritte. Und dennoch wünsche ich mir, dass man den Blick nicht davon abwendet, was die vielen Engagierten gesagt und geschrieben haben. Vielleicht wirkt das weltweit verbreitete Wissen auf unerklärlichen Wegen und Umwegen einmal in ferner Zukunft dahin, den heutigen Pessimismus zu überwinden.

Niehoff, Mirko (Hrsg.): Nahostkonflikt kontrovers. Perspektiven für die politische Bildung. Wochenschau Verlag, Schwalbach 2016, 316 Seiten