Smith, Mike: Boko Haram. Der Vormarsch des Terror-Kalifats
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Die Initiative «Bring Back Our Girls» ist zum Symbol des Kampfes gegen Boko Haram, gleichzeitig aber auch der Ohnmacht der nigerianischen Regierung gegenüber der Terrororganisation, die trotz Rückschlägen für Tausende junger Afrikaner attraktiv ist und ein riesiges Gebiet im Norden Nigerias kontrolliert. Der amerikanische Journalist Mike Smith hat Boko Haram mehr als drei Jahre lang in Nigeria beobachtet und legt mit diesem Buch eine erste umfassende Darstellung der geheimnisvollen Gruppierung vor. Er hat für die Nachrichtenagentur AFP gearbeitet, ist inzwischen in Paris stationiert und hat zahlreiche Artikel in grossen Zeitungen und Magazinen wie «Slate magazin» oder «The Guardian» publiziert. Hier erklärt er, wie Boko Haram entstanden ist und warum die Gruppe sich auf reformislamische Kalifate im Norden des heutigen Nigeria beruft, beschreibt den Aufstieg der Boko-Haram-Führer Mohamme Yusuf und Abubakar Shekau und analysiert den Wandel der Strategien von Boko Haram hin zu Entführungen, Selbstmordattentaten und ihrer internationalen Vernetzung sowie die hilflosen, ja kontraproduktiven Gegenmassnahmen der nigerianischen Einsatzkräfte. Sein alarmierender Lagebericht möchte er als Mahnung an den Westen verstanden wissen, nicht länger die Augen vor dem Terror-Kalifat zu verschliessen.
Smith tut dies mit spannenden Reportagen und Recherchen. Wir wissen am Schluss viel von dieser höchst komplexen und widersprüchlichen Entwicklung. Dass wir den tiefsten Grund der Entstehung dieser Terror-Miliz umfassend verstehen, wäre eine Überforderung des Buches. Auch wenn der Autor bezweckt, im Westen die Augen vor dem Terror-Kalifat zu öffnen, bleibt unentschieden, was der Westen zu tun hätte. Doch auch dies wäre wohl zu viel verlangt. Das Buch ist bloss ein Anfang für das Weiterstudium, für das es am Schluss eine Zeittafel von 1085 bis 2015, Karten, ein Glossar, eine Literaturliste und ein Register liefert.
Persönlich leite ich aus den Beobachtungen und Analyse von Mike Smith Folgendes ab: wohl nicht mehr als kleine Steine eines riesengrossen Mosaiks: Erstens waren alle Länder, in denen Boko Haram oder der Islamische Staat entstehen, in der Vergangenheit Kolonien, war der Westen an deren Entwicklung also nicht unbeteiligt. In diesen Ländern herrschte, zweitens, Armut und Mangel an Bildung, dies trotz reichen Schätzen wie Erdöl; auch hier ist der westliche Kapitalismus mit seinen Handelsbeziehungen involviert. Drittens gab es fast überall Korruption; ob aus ihrem Stammesdenken abgeleitet oder aus dem Wissen, welches aus westlichen Ausbildungsstätten eingeführt wurde. In irgend einer Form, so scheint mir viertens, waren die Religionen an dieser Entwicklung immer mitbeteiligt; sei es als Islam gegen das Christentum oder die als islamische Fraktionen untereinander. Zugegeben, auch diese Anmerkungen bringen keine abschliessenden Antworten, sondern bloss neue Fragen. – Eine zusätzliche Analyse des Themas, diesmal mit dem Islamischen Staat und der Rückkehr des Kalifats im Vordergrund, bietet Loretta Napoleoni mit «Die Rückkehr des Kalifats. Der Islamische Staat und die Neuordnung des Nahen Ostens».
Smith, Mike: Boko Haram. Der Vormarsch des Terror-Kalifats. C. H. Beck, München 2015, 287 Seiten