Pappe, Ilan und Hilal, Jamil (Hrsg.): Zu beiden Seiten der Mauer
Der vorliegende Band ist das Ergebnis einer bisher einmaligen Kooperation israelischer und palästinensischer Historikerinnen und Soziologen, zum Zweck, die Geschichte dieses umkämpften Landes in einem gemeinsamen Kontext aufzuarbeiten. Ilan Pappe und Jamil Hilal versammelten dafür namhafte Wissenschaftler von beiden Seiten der Mauer zu einem Dialog über die Geschichte, Ursachen und möglichen Lösungen dieses unerklärten Krieges. Gemeinsam appellieren sie dafür, die jeweiligen nationalen Meta-Erzählungen zu hinterfragen, die bisher jede Verständigung blockierten. Vereint hat die Autoren PALISAD, ein akademisches Forum für periodische gemeinsame Diskussionen in Ramallah und Jerusalem. Diese Kontakte wurden zwischenzeitlich leider unterminiert und schliesslich verunmöglicht – vergleichbar den Gesprächen von israelischen und palästinensischen Frauen, von denen Sumaya Farhat-Naser berichtet, die ebenfalls abgebrochen werden mussten.
Wie «1948» und «1967» von Ilan Pappe und Bennie Morris respektive Tom Segev gründlich erforscht wurden, so bearbeiteten in diesem Reader vierzehn israelische und palästinensische Wissenschaftler weitere Aspekte der Geschichte und Gegenwart von Israel/Palästina. Der Band ist für jeden an diesen Themen interessierten Leser, jede interessierte Leserin wertvoll, weil er Wissenslücken schliesst und neue Zusammenhänge aufzeigt und damit Erklärungen ermöglicht. Sei es mit einem originellen, höchst aufklärenden Bild wie Oren Yiftachel im Aufsatz «Ethnokratie. Die Politik der Judaisierung Israels/Palästinas» (Seite 297): «Ich schlage eine Metapher vor, in der der israelisch-jüdische Diskurs einem schiefen Turm wie dem in Pisa entspricht. Wenn man den Turm betritt, erscheint er gerade, weil seine innere Struktur vollkommen senkrecht und parallel ist. Ähnlich ist es mit dem introvertierten Diskurs über den jüdischen und demokratischen Staat: sowie sie sich innerhalb dieses Diskurses befinden, akzeptieren die meisten Juden den jüdischen Charakter des Staates als unproblematischen Ausgangspunkt ebenso wie den Fussboden in dem schiefen Turm. Aus dieser Perspektive erscheint die Judaisierung natürlich und gerechtfertigt.» Mir persönlich brachte der Beitrag «“Auf/Lösung“ des palästinensischen Flüchtlingsproblems. Israelische „Wiederansiedlungs“-Pläne im ersten Jahrzehnt des Staates (1948 – 1958) unerwartet viel Neues. Ansonsten möchte ich keine einzelne Untersuchung hervorheben; alle lohnen sich gelesen zu werden.
Welche Aufgabe hat die Wissenschaft in diesem Konflikt, fragt man sich angesichts des immensen wissenschaftlichen Aufwandes, der hier und an den Universitäten Israels und Palästinas betrieben wird. Pappe dazu: «Es ist nicht möglich, ein gemeinsames Leben in der Zukunft aufzubauen, wenn man kein gemeinsames Verständnis der Geschichte hat.» Und Hilal: «Das Ziel ist, sich von ideologischen Geschichtsschreibungen zu befreien, die einen zur Treue zur eigenen Seite verpflichten und weniger erkennen, dass diese Ideologie ein Hindernis für den Frieden ist.» Doch nicht nur die Wissenschaft ist gefordert, möchte ich ergänzen. Das vergleichbare Apartheidsystem Südafrikas wurde nicht allein durch die charismatische Person Nelson Mandelas, sondern auch durch den Boykott der freien Welt überwunden. Warum soll das nicht auch im Nahen Osten funktionieren? Das Buch legt mir nahe, dass auch bei uns in der politischen Bildungsarbeit, in den Schulen, beim privaten Konsum und in den Handelsbeziehungen, im Parlament und in der Regierung sowie den Medien noch vieles zu tun ist. Im Beitrag «Die Kolonialherren im geographischen Palästina beim Namen genannt. Begriffe und politische Dilemmas und ihre mögliche Lösung» meint Uri Davis (Seite 389): «Einer der wichtigsten Gründe, warum der Konflikt immer weiter tobt, ist die riesige Kluft zwischen dem Bild, das sich die (westliche) Aussenwelt von der „Realität“ in Palästina macht, und der Wirklichkeit, die die Palästinenser selbst vor Ort erleben. Die Hoffnung, dass es für dieses zerrissene Land eines Tages Versöhnung und Frieden geben könnte, kann nur dann in Erfüllung gehen, wenn diese Kluft zwischen wahrgenommener und gelebter Realität geschlossen wird. Meiner Meinung nach hängt sehr viel davon ab, dass die ideologischen und historischen Verzerrungen wiederlegt werden, mit denen die Zionisten die fortschreitende Enteignung eines anderen Volkes begründen.»
Pappe, Ilan / Hilal, Jamil (Hrsg.): Zu beiden Seiten der Mauer. Auf der Suche nach einem gemeinsamen Bild der israelisch-palästinensischen Geschichte. LAIKAtheorie. Hamburg 2013, 443 Seiten.