Perthes, Volker: Das Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen *

Der Raum zwischen Mittelmeer und Persischem Golf ist in vielerlei Hinsicht nicht mehr der Nahe Osten, wie wir ihn kennen - oder zu kennen glauben.

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In den letzten Jahrzehnten verstand man unter dem Nahen Osten meist Israel und Palästina, zeitweise Iran oder Irak, gelegentlich Libanon oder Syrien; die Golfstaaten bildeten damals noch eine unbekannte Grösse im Hintergrund; Nordafrika wurde vor dem Arabischen Frühling nicht dazu gezählt. Und noch zu Beginn des neuen Jahrtausends hätte sich kaum jemand vorstellen können, dass der Nahe Osten derart durcheinandergeraten würde. Saddam Hussein und Muammar al-Gadafi sind Geschichte; neue Allianzen mit dem Westen sind entstanden; ein Flächenbrand ist ausgebrochen und in absehbarer Zeit nicht zu löschen. Die staatliche Ordnung zerfällt, nicht-staatliche Akteure wie der Islamische Staat (IS) füllen das Vakuum, Grenzen werden irrelevant, das Ausmass der Gewalt und des Hasses sprengt die Vorstellungskraft. Die Region steht am Beginn, «einer Periode von Turbulenzen und Wandlungsprozessen, die kein Land völlig unberührt lassen wird», schreibt Volker Perthes. Er selbst, 1958 geboren, Spitzendiplomat, Leiter der Stiftung Wissenschaft und Politik, Berater und gefragter Kommentator der Politik des Nahen Ostens, bringt es mit seinem, bescheiden als Essay betitelten Buch «Das Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen» auf den Punkt.

Auch Perthes bietet keine Lösungen an. Er fasst die bekannten Ratschläge zusammen, die in einzelnen Ländern zu Konfliktlösungen beitragen. Eine Leistung des Essays liegt darin, dass er die Knoten der Krisen und Kriege auflöst, indem er in verständlicher Sprache Ursachen, Triebkräfte und Akteure identifiziert. Er veranschaulicht dies auf drei Zeitebenen, was erklärt, dass eine neue, stabile Regionalordnung sich noch lange nicht abzeichnen wird. Hier und jetzt ist unser Blick auf das aktuelle Geschehen fixiert, etwa die tägliche Gewalt und die Flüchtlingsströme. Auf der zweiten Ebene ist es die Ordnung, welche die Kolonialmächte vor einem Jahrhundert geschaffen haben. Weiter geht es im arabischen Raum um geradezu «tektonische Brüche», welche in der Vergangenheit die Region gestaltet haben. Doch diese Ordnung löst sich endgültig auf, die Region befindet sich erst am Anfang einer langen turbulenten Phase. Staaten wie Syrien, Libyen und Jemen sind im Begriff zu zerfallen. Doch anders als nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs vor 100 Jahren ist keine Grossmacht fähig oder willens, die Region neu zu ordnen. Das Ende des alten Nahen Ostens ist eingeläutet.

Der Autor fordert die Vereinigten Staaten, Europa und andere internationale Mächte auf, ihre regionalen Partner im Kampf gegen den IS zu unterstützen. Den eigentlichen Kampf müssten diese zwar selber führen. Doch er macht sich nichts vor: «Der IS wird nicht einfach verschwinden». Er wird militärisch besiegt werden müssen, auch wenn dieses Vorgehen allein nicht genügt. Der Krieg muss auch ideologisch gewonnen werden. Denn die Sprache des selbst ernannten Kalifen Bagdadi und die dahinter liegende totalitäre Koran-Auslegung «unterscheiden sich an vielen Stellen nur wenig von dem, was man auch von saudischen Religionsgelehrten hören kann». Um den IS zu besiegen, müsste sich also auch Saudi-Arabien verändern.

Auch wenn es sich zum Teil um Spekulationen handelt, und diese im Konjunktiv formuliert sind, gibt der Essay hilfreiche Anregungen, die Brüche und den Wandel im Nahen Osten zu analysieren und auf ihre Chancen und Gefahren hin abzuklopfen. Staatenzerfall, Konfliktlinien und Interessen in der Region Syrien stehen im Mittelpunkt des Essays. Es lohnt sich, über die vorgeschlagenen Handlungsoptionen und Szenarien nachzudenken. Denn wichtig ist es zu begreifen, wo die aktuellen Konfliktlinien verlaufen, welche Interessen die Staaten verfolgen. Im Fokus des Buchs liegt eindeutig Syrien, wo seit vier Jahren ein Krieg herrscht, der inzwischen 250.000 Menschen das Leben gekostet hat, von wo über vier Millionen der 21 Millionen Syrer ins Ausland geflohen und weitere siebeneinhalb Millionen im Land auf der Flucht sind. Doch der syrische Krieg hat sich längst internationalisiert. Iran und die libanesische Hisbollah unterstützen das Regime Baschar al-Assads, Saudi-Arabien und die Türkei die islamistischen Aufständischen, zeitweilig auch den dschihadistischen IS. Schiiten und mit ihnen verwandte Alewiten auf der einen Seite, Sunniten auf der andern. Perthes warnt davor, den Krieg ausschliesslich als Konflikt zwischen Konfessionen zu interpretieren. Es wird zwar von interessierter Seite bewusst und gezielt konfessionalisiert. Und dennoch verbreitet sich das «Gift der Konfessionalisierung» in der gesamten Region weiter, wenn es nicht zu einer Entspannung zwischen Saudi-Arabien und dem Iran kommt, meint der Nahost-Experte. Und ohne eine solche werde es auf absehbare Zeit in Syrien keine Konfliktlösung geben. Das jüngst abgeschlossene Atomabkommen mit dem Iran (und dessen Umsetzungsbestätigung am 16. Januar 2016, wogegen Israel und die Republikaner Amerikas Sturm laufen), könnte «das regionale Kräftefeld nochmals neu in Schwingung versetzen», meint Perthes.

Mehr zur Geschichte des IS: Loretta Napoleoni: Die Rückkehr des Kalifats und Mike Smith: Boko Haram. Der Vormarsch des Terror-Kalifats.

Perthes, Volker: Das Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen. Ein Essay. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 144 S.